Sie kündigte mit 30 ihren Job für eine Karriere als Popstar – und wurde für ihren Mut belohnt. Heute hat Priya Ragu einen internationalen Plattenvertrag und wird als zukünftiger Weltstar gehandelt. Die tamilisch-schweizerische Sängerin über ihren langen Weg zu Erfolg und Selbstbestimmung.

Ihre letzten zwölf Monate klingen wie ein Hollywood-Drehbuch: Letztes Jahr haben Sie noch als Buchhalterin Excel-Tabellen ausgefüllt, diesen Sommer standen Sie auf der Bühne des legendären Montreux Jazz Festival.
Absolut. Ich denke oft, ich träume. In Montreux war ich unvorstellbar nervös. Dieses Festival besitzt eine ganz besondere Magie. Das Publikum ist fachkundig und alle Musiklegenden waren schon hier – darunter auch meine Idole Alicia Keys, Lauryn Hill und Stevie Wonder.

Sie haben deren Hits als Kind heimlich nachgesungen – gegen den Willen der Eltern.
Ja. Die westliche Musik und die dazugehörigen MTV-Videos waren meinen Eltern zu obszön, deshalb übte ich die Popsongs heimlich in meinem Zimmer. Im Wohnzimmer hingegen lief tamilische Musik, wir hatten sogar eine Familienband und sind an tamilischen Festen aufgetreten. Mein Vater spielte die Tabla, ein nordindisches Schlaginstrument, mein Bruder Keyboard und ich habe gesungen.

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Gebt euch nicht zu früh zufrieden, das Leben hat so viel zu bieten. Ihr könnt alles schaffen – auch als Frau und auch mit über 30!

Als Ihnen Ihr Bruder mit 16 den ersten Live-Gig vermittelte, hat Ihr Vater den Auftritt verboten.
Das war der schlimmste Tag in meinem Leben. Aber mein Vater wollte mich beschützen: vor dem Nachtleben, den Typen, dem Alkohol. Ich wurde brutal streng erzogen. Meine Eltern kamen 1981 traumatisiert vom Bürgerkrieg in Sri Lanka in die Schweiz. In ihrem Leben ging es immer nur ums Überleben. Sie wollten uns Kindern ein besseres Leben ermöglichen, hatten aber auch klare Erwartungen: eine gute Ausbildung, ein sicherer Job, ein tamilischer Ehemann, eine Schar Kinder. Eine Musikkarriere war da nicht vorgesehen. «Das bringt dir keinen Reis heim», sagte mein Vater.

Trotzdem gelang es Ihnen, sich von diesen Erwartungen zu emanzipieren und Ihren eigenen Weg zu gehen. Woher nahmen Sie diese Kraft zur Selbstbestimmung?
Ich war als Kind sehr unsicher und nicht besonders populär bei meinen Mitschülern. Ich war eine Aussenseiterin. Dank der Musik habe ich dann meine Stärke gefunden. Beim Singen fühlte ich mich wohl. Das gab mir Selbstvertrauen und dabei bin ich aufgeblüht. Ich habe aber auch hart trainiert, um selbstbestimmter zu werden.

Wie kann man das trainieren?
Ich bin zum Beispiel am Morgen aufgestanden und habe drei Seiten in mein Tagebuch geschrieben, meine Gedanken, meine Unsicherheiten – so bin ich auf Lösungen gekommen, das war ziemlich therapeutisch. Zudem habe ich immer wieder meine Komfortzone verlassen. So habe ich etwa ein Ticket nach Namibia gebucht, um dort mit wilden Tieren zu arbeiten. Oder bin nach London gereist, um das E-Bass-Spielen zu lernen. Es war ein langer Prozess der Selbstfindung. Erst mit 30 fand ich den Mut, ganz auf die Musik zu setzen.

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Mir geht es nicht um Ruhm. Ich will selbstbestimmt bleiben und meinen eigenen Sound machen.

Sie haben gewagt, wovon viele Menschen träumen. Was war der Auslöser dafür?
Ich habe mich gefragt: Ist dieses bequeme Leben wirklich erfüllend für mich? Und ich habe realisiert, dass ich eigentlich die beste Ausgangslage habe, etwas zu riskieren und meinen Traum zu leben. Ich hatte das Privileg, in der reichen, sicheren Schweiz aufzuwachsen und eine gute Ausbildung zu geniessen. Sollte ich scheitern, würde ich nicht vor einem Scherbenhaufen stehen. Wichtig ist, dass man es versucht. Lieber kämpfe ich für meine Passion und vergiesse dafür viel Schweiss und Tränen, als dass ich mit 65 bereue, es nie gewagt zu haben. Also zog ich nach New York mit dem Ziel, dort zehn eigene Songs zu schreiben.

Einer dieser Songs wurde schliesslich in der legendären BBC-Radioshow «Future Sounds» gespielt, obwohl Sie noch gar keinen Plattenvertrag hatten. Wie schafft es eine unbekannte Do-it-yourself-Musikerin aus der Schweiz in das sogenannte «Vorzimmer zum Pophimmel»?
In New York traf ich eine Stylistin, die mir Kontakte vermittelte zur Musik- und Videoszene in Mumbai. Daraufhin organisierte ich dort per Instagram eine Crew, plünderte meine gesamten Ersparnisse und drehte meinen ersten Videoclip «Good Love 2.0». Dieser lief dann in Dauerschlaufe auf dem indischen Musikkanal VH1 und wurde so von der BBC entdeckt. Das war mein Durchbruch: Kaum lief mein Song in England, klopften 30 Labels bei mir an.

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Kürzlich haben Sie beim Branchenriesen Warner Music unterschrieben. Vor einigen Jahren liessen Sie noch kurz vor Vertrags¬abschluss einen Platten-Deal platzen, weil Sie um Ihre künstlerische Freiheit fürchteten.
Richtig. Als ich damals nachfragte, ob ich auch wirklich meine eigene Musik machen könne, hiess es, ich müsse mit dem Label-Produzenten zusammenarbeiten. Das fühlte sich nicht richtig an und ich sagte ab. Ich wollte nie um jeden Preis einen Plattenvertrag. Mir geht es nicht um Ruhm. Ich will selbstbestimmt bleiben und meinen eigenen Sound machen, den ich mit meinem Bruder entwickelt habe. Wir nennen ihn «Ragu Wavy», ein Mix aus R&B, Soul, Hiphop und traditioneller tamilischer Musik. Dieses Mal wurde mir das zugesichert.

Sie sagten einmal: «Bei meinen Songs geht es mir darum, Erwartungen zu unterlaufen.» Was meinen Sie damit?
Ich will Stereotypen infrage stellen. Zum Beispiel, dass sri-lankische Menschen in der westlichen Welt allesamt als Köche, Reinigungskräfte oder Verkäufer arbeiten. Menschen, die man selten beneidet oder begehrt. Ich bin stolz darauf, wer ich bin. Und meine Musik zelebriert das.

Hat man als Künstlerin eine gesellschaftliche Verantwortung?
Ich denke schon. Man sollte eine gewisse Botschaft haben, wenn man schon das kreative Talent geschenkt bekommen hat, die Menschen emotional zu bewegen. Ich will die Menschen dazu ermutigen, auf sich zu hören und ihren eigenen Weg zu gehen.

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Ich bin stolz darauf, wer ich bin. Und meine Musik zelebriert das.

Was können andere aus Ihrer Geschichte lernen?
Limitiert euch nicht und steht euch nicht selbst im Weg! In uns allen steckt viel mehr, als wir denken. Aber wir suchen aus Angst gerne Ausreden, um unser Potenzial nicht ausschöpfen zu müssen. Gebt euch nicht zu früh zufrieden, das Leben hat so viel zu bieten. Ihr könnt alles schaffen – auch als Frau und auch mit über 30!

Haben Ihre Eltern inzwischen Ihre Unabhängigkeit akzeptiert?
Ja. Sie sind sehr stolz darauf, dass ich die Kulturen vermische und die Musik aus Sri Lanka auf die Weltkarte der Popmusik bringe. Manchmal gibt mir mein Vater sogar Tipps, wie ich meine Songs noch verbessern kann.

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Priya Ragu

Priya Ragu (35) wuchs als Kind von tamilischen Flüchtlingen im ostschweizerischen Dorf Bazenheid auf und war viele Jahre eine unbekannte Hobbysängerin. Doch mit dem Song «Good Love 2.0» ging 2020 ihr Stern am Pophimmel auf. Heute hat Priya Ragu einen Vertrag mit Warner Music, monatlich über 200’000 Hörerinnen und Hörer beim Streamingdienst Spotify und sie lieferte den Soundtrack für Fifa 21, das bekannteste Sport-Computergame der Welt. Ihre Musik wird von ihrem Bruder Japhna Gold produziert und ist ein einzigartiger Stilmix aus Soul, R&B, Hiphop und tamilischer Volksmusik. Für die britische «Vogue» gehört Priya Ragu zu den sechs Stimmen, «die im Jahr 2021 in die Stratosphäre abheben». Auch beim «New Musical Express» steht sie auf der Liste der «100 essenziellen neuen Künstler fürs Jahr 2021». Im Herbst 2021 geht Priya Ragu auf ihre erste Europa-Tournee und tritt im November unter anderem auch in der Schweiz, Deutschland und Frankreich auf.

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