• In Europa leben immer mehr Menschen in Städten, und auch die urbane Bevölkerung altert laufend.
  • Die Kommunalpolitik setzt sich mit den Herausforderungen der alternden Stadtbevölkerung auseinander, eine Krise droht momentan aber nicht.
  • Die Schaffung altersfreundlicher urbaner Umgebungen erfordert Koordination zwischen Senioren, Politikern, Beamten, Infrastrukturexperten und anderen Interessenträgern.
  • Die finanziellen Mittel für Verbesserungen sind wohl verfügbar, der politische Wille dagegen ist schwieriger sicherzustellen. 

Nach Angaben der Vereinten Nationen lebte 2007 die Hälfte der Weltbevölkerung in Städten. Bis 2050 dürfte dieser Anteil auf zwei Drittel steigen. Zwischen 1980 und 2015 stieg der Anteil der Stadtbevölkerung in Frankreich von 73% auf 80%, in der Schweiz sogar von 57% auf 74%. In Deutschland und Österreich blieb die Zahl der Städter weitgehend unverändert, doch die UNO prognostiziert für die nächsten 25 Jahre in allen vier Ländern eine weitere langsame, aber stetige Urbanisierung. 

92% der Schweizer Bevölkerung über 65 leben in städtischen Gebieten.

Die Schweizer zieht es in die Städte

In der Schweiz streben besonders viele Senioren in städtische Gebiete. Mittlerweile leben dort schon 92% der Schweizer Bevölkerung über 65.

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Quelle: UN: Urban and Rural Population by Age and Sex, 1980-2015 (Version 3, August 2014).

Die alternde Bevölkerung in den Städten spiegelt die allgemeine Alterung der Bevölkerung in Europa wider. In Frankreich, Deutschland und Österreich ist etwa jeder fünfte Stadtbewohner über 65, in der Schweiz fast schon jeder vierte.

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Quelle: UN: Urban and Rural Population by Age and Sex, 1980-2015 (Version 3, August 2014).

Die Politik muss reagieren

Diese erheblichen demografischen Veränderungen verstärken den Druck auf die städtischen Ressourcen, und dies wiederum zwingt die Politik zu reagieren. Irina Ionita, Generalsekretärin von PLATFORME – einem Zusammenschluss von Seniorenvereinigungen in Genf – meint: «In der Politik sind grosse Veränderungen auf allen Ebenen nötig: international, national und lokal. Die körperliche und seelische Gesundheit hängt eng mit der Umgebung zusammen, besonders in stark urbanisierten Gebieten, und hier muss die Gemeinde eine fundamentale Rolle übernehmen.» 

Irina A. Ionita
Die körperliche und seelische Gesundheit hängt eng mit der Umgebung zusammen, besonders in stark urbanisierten Gebieten, und hier muss die Gemeinde eine fundamentale Rolle übernehmen.»

Pierre-Olivier Lefebvre, Geschäftsführer des Réseau Francophone des Villes Amies des Aînés (RFVAA) – einer Untergruppe des Programms «Age-Friendly Cities» der Weltgesundheitsorganisation (WHO), in der sich Stadtverwaltungen über Best Practices für seniorenfreundliche Initiativen austauschen, – fügt hinzu: «In den letzten Jahren haben die Verantwortlichen erkannt, dass sie sich nicht nur für sozialmedizinische Fragen interessieren dürfen, wenn es um ältere Menschen geht, sondern die Städte grundsätzlicher anpassen, und das soziale und bauliche Umfeld, das den Alltag der Menschen prägt, besser berücksichtigen müssen».

Seit 2013 sind über 50 französische Städte dem RFVAA beigetreten. Das WHO-Programm zielt darauf ab, auf internationaler Ebene Best Practices zu entwickeln und auszutauschen, und war massgeblich an der Bildung einer Kooperative von Stadtverwaltungen beteiligt, die solche Themen gemeinsam beraten.

Eine seniorenfreundlichere Gestaltung der Städte und ein Austausch über Best Practices können helfen, ein Umfeld zu schaffen, das die Autonomie älterer Stadtbewohner fördert. Allerdings sind solche Ziele schwer zu erreichen.

Es gibt nicht nur einen Zustand des Altseins, sondern viele; jeden einzelnen muss man mit seinen jeweiligen Besonderheiten verstehen.

Keine schnellen Lösungen

In einer Umfrage der Economist Intelligence Unit (EIU) im Auftrag von Swiss Life erklärte ein Viertel der Befragten im Alter über 65 Jahren in Deutschland, Frankreich, Österreich und der Schweiz, die Fähigkeit, sich in ihrer Umgebung – mit ihren Strassen und öffentlichen Verkehrsmitteln – zurechtzufinden, zähle zu den wichtigsten Aspekten für den Erhalt eines akzeptablen Masses an Autonomie.

Dieses Bedürfnis war wichtiger als alle anderen Aspekte mit Ausnahme der Gesundheit (körperlich und geistig) sowie der wirtschaftlichen Mittel. Die Betonung der Autonomie veranlasste 35% der Befragten zu der Aussage, ihr Land benötige eine öffentliche Infrastruktur, die für ältere Menschen benutzerfreundlicher sei. Auch gaben 32% an, für diese Bevölkerungsgruppe fehlten geeignete Wohnungen.

Einfache Universallösungen gibt es für diese Herausforderungen nicht. Die Schwierigkeiten und kommunalpolitischen Hebel sind von Land zu Land, ja selbst von Stadt zu Stadt verschieden. Ionita weist darauf hin, dass «jedes Land zwar von derselben globalen Realität ausgeht, aber trotzdem auf seine ureigene Weise funktioniert». Marcello Martinoni, Kommunalberater und ehemaliger Koordinator eines Schweizer Forschungsprojekts zur Gestaltung von Siedlungsräumen für eine alternde Gesellschaft, fügt hinzu, Best-Practice-Beispiele seien zwar nützlich, aber: «Es gibt keine universellen Lösungen für spezifische Probleme, nicht einmal innerhalb eines Landes. Was etwa in Lugano gut funktioniert, kann schon in Locarno, nur 30 km entfernt, im Fiasko enden.»

Ebenso wichtig sei, dass die ältere Bevölkerung sehr heterogen ist. «Es gibt nicht nur einen Zustand des Altseins, sondern viele; jeden einzelnen muss man mit seinen jeweiligen Besonderheiten verstehen», führt Ionita aus. Was sich für die eine Seniorengruppe als wichtig erweise, könne für die andere vollkommen irrelevant sein.

Den politischen Willen finden

Das WHO-Programm «Age-Friendly Cities» konzentriert sich daher auf acht Bereiche, die auf unterschiedliche Weise zur Autonomie beitragen: öffentlicher und bebauter Raum, Verkehr, Wohnen, soziale Beteiligung, Respekt und soziale Integration, zivilgesellschaftliche Beteiligung und Beschäftigung, Kommunikation und Information sowie Unterstützung durch die Gemeinden und Gesundheitsdienstleistungen.

Gefragt ist ein koordinierter Ansatz, denn isolierte Bemühungen könnten sich immer nur auf Verbesserungen in einzelnen Bereichen konzentrieren. Martinoni weist darauf hin, dass man «beim Wohnen beispielhaft eine allgemeine Initiative anstrebt, damit eine Wohngegend altersfreundlicher wird. Also baut man geeignete Wohnungen, aber am Ende hat man dann vielleicht ein Getto» für die Alten, wenn man Aspekte wie soziale Integration und Beteiligung nicht berücksichtigt. Diese Aspekte könnten die geistige und körperliche Gesundheit und letztlich auch die persönliche Autonomie ebenso tiefgreifend beeinflussen wie ungeeigneter Wohnraum.

Finanzielle Mittel seien für solche Projekte und Verbesserungen womöglich verfügbar, doch die Schwierigkeiten lägen oft bei der Mittelzuteilung und bei der Frage, ob der politische Wille vorhanden ist, solche Veränderungen umzusetzen. Jeder bedeutende Kurswechsel auf kommunaler Ebene erfordere politischen Willen, doch dieser fehle womöglich noch immer, obwohl man die Auswirkungen der steigenden Lebenserwartung immer besser verstehe. Das Hauptproblem liegt nach den Worten von Angélique Philipona, Entwicklungsleiterin beim RFVAA, oft darin, «eine Mehrheit der politischen, wirtschaftlichen, sozialen und fachlichen Akteure davon zu überzeugen, dass die Alterung der Bevölkerung sie überhaupt betrifft.» 

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Die Politik konzentriert sich meist auf Probleme, die gelöst werden müssen. Stattdessen sollten wir uns darauf konzentrieren, wie eine alternde Gesellschaft aussehen kann.

Ein Teil der Lösung wird darin bestehen, die öffentliche Wahrnehmung einer alternden Bevölkerung zu verändern. Martinoni weist darauf hin, dass «die Politik sich meist auf Probleme konzentriert, die gelöst werden müssen. Stattdessen sollten wir uns darauf konzentrieren, wie eine alternde Gesellschaft aussehen kann.» Lefebvre fügt hinzu, Senioren müssten als Bürger angesehen werden, die viel zu bieten hätten, und nicht als Belastung: «Ältere Menschen sind zuallererst Einwohner ihrer Stadt, und sie müssen das Gefühl haben, dass sie dort hingehören, nicht ‹wegen› oder ‹trotz› ihres Alters, sondern ‹mit› ihrem Alter.»

Von älteren Mitbürgern lernen

Wichtig für eine erfolgreiche Politik ist die Zusammenarbeit zwischen gewählten Amtsträgern, von der Stadt beauftragten Experten und den Senioren selbst, sei es direkt oder über ihre eigenen Organisationen. In der Praxis können das ganz einfach Dinge sein. So haben etwa Gruppen in Dijon und Rennes gemeinsam die besten Standorte für Sitzbänke festgelegt, um ältere Menschen zu Spaziergängen zu ermutigen. Grundsätzlich erfordert der Prozess eine laufende Abstimmung zwischen Senioren, Politikern, Beamten, Infrastrukturexperten und anderen Interessenträgern.

Solche Massnahmen müssen damit beginnen, dass man von älteren Mitbürgern lernt, sodass die Beteiligten die tatsächliche – nicht die vermutete – Lage vor Ort verstehen. Philipona erläutert, ein solcher konsultativer Bottom-up-Ansatz sei wichtig, um die «stereotypen Vorstellungen von dieser Altersgruppe zu überwinden und sicherzustellen, dass es im Kern um die Wirklichkeit geht, in der diese Einwohner leben.» Diesen Dialog langfristig in Gang zu halten, sei, so Philipona «eine der häufigsten Schwierigkeiten» bei einer seniorenfreundlichen Politik. Französische Städte hätten Seniorenbeiräte eingesetzt, um eine solche kontinuierliche Abstimmung zu fördern.

Politik erfordert Integration

Eine Politik, die auf die Alterung reagiert, muss zu einem Anliegen werden, an dem sich möglichst viele Interessengruppen beteiligen. Martinoni weist darauf hin, dass die Verantwortung für die Entwicklung einer Strategie oft denen übertragen wird, die für die Sozialpolitik der Stadt zuständig sind. «Dies mag anfangs notwendig sein, doch dabei besteht das Risiko, dass alle Pläne bei den Sozialpolitikern bleiben und andere Abteilungen der Kommunalverwaltung erst gar nicht darüber nachdenken.»

Ausserdem erfordert Politik Integration. Nach Ionitas Worten muss man bei Projekten in Genf zur Verbesserung des Wohnungs- und Verkehrsangebots für Senioren nicht nur mit den Baufirmen zusammenarbeiten, sondern auch mit dem Denkmalschutz, da die betroffenen Gebäude und Gebiete oft historisch bedeutsam seien.

Der aktuelle Fünfjahresplan der Stadt Genf für eine seniorenfreundliche Politik hat sieben Prioritätsbereiche wie Mobilität und Barrierefreiheit, Wohnen, soziale Anerkennung der Senioren und Kampf gegen Isolation und soziale Ausgrenzung. Diese Aspekte werden im Rahmen eines abteilungsübergreifenden Ausschusses gegenseitig verfolgt. Um für mehr Kohärenz zu sorgen, erwägt die Stadt die Ernennung eines einzelnen Seniorenbeauftragten, der in diesen Fragen als Schnittstelle zwischen Öffentlichkeit und Verwaltung fungiert.

Die städtische Umgebung ist mit der sozialen verknüpft.

Eine erfolgreiche Politik für eine alternde Bevölkerung muss im Übrigen die Belange von Jungen und Alten berücksichtigen. Von einer seniorenfreundlichen Umgebung mit besseren Fusswegen und sichereren Strassen profitieren letztlich alle. Martinoni erklärt: «Die städtische Umgebung ist mit der sozialen verknüpft. Wenn junge Familien beispielsweise glauben, die Älteren würden die gesamten Mittel der Stadt für ihre Bedürfnisse vereinnahmen, wird es schwer, die Kompromisse zu finden, die für städtische Massnahmen erforderlich sind.» Stattdessen, erläutert Lefebvre, müssten städtische Massnahmen mit Bezug auf das Altern ein wichtiges Element des breiteren Bestrebens sein, «eine Umgebung zu schaffen, die den Bedürfnissen aller Altersgruppen entspricht.»

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