Uber fahren, Kleinstvermieter werden, digitale Miniaufträge erledigen: Immer mehr Soloselbständige leben eher von einzelnen Aufträgen als von dauerhaften Jobs. Dieses Phänomen wird als Gig Economy bezeichnet. Doch welche Konsequenzen haben die immer flexibler werdenden Arbeitsmodelle auf die Altersvorsorge?

Ein unbefristete Anstellung, geregelte Arbeitszeiten, ein fester Lohn, bezahlte Ferien – was in den letzten 150 Jahren zur Norm geworden ist, bildet vielleicht bald schon die Ausnahme. Grund dafür ist ein Trend, der den Arbeitsmarkt grundlegend verändern könnte: Die sogenannte Gig Economy. Gemeint sind kleine Aufträge, die kurzfristig an unabhängige Freiberufler vergeben werden. So wie Musiker hangeln sich immer mehr Selbständige von ­einem bezahlten Auftrag (Gig) zum nächsten. Sinnbild für diese neue Wirtschaftsform sind Uber-Fahrer oder Airbnb-Vermieter. Im Internet floriert eine wachsende Zahl von Vermittlungsportalen, auf denen Menschen ihre Arbeitskraft – von der Hilfsarbeit bis zur qualifizierten Dienstleistung – weltweit feilbieten. Immer mehr Unternehmen greifen auf die digitalen Tagelöhner zurück, kleine Start-ups ebenso wie Konzerne. Denn die «Crowd» ist zu jeder Tages- und Nachtzeit verfügbar, überall auf der Welt einsetzbar und scheinbar unerschöpflich. Immer neue Schlagwörter wie Sharing Economy, Crowdsourcing oder Microjobbing stehen sinnbildlich für die rasend schnelle Entwicklung des globalen Dienstleistungssektors. 

Flexible Arbeitsmodelle immer beliebter

Das neue Phänomen «Gig Economy» ist noch wenig untersucht, aber fest steht: Die flexiblen Arbeitsmodelle ohne Festanstellung sind seit der Finanzkrise massiv auf dem Vormarsch. Mittlerweile sind über 30 Millionen Menschen auf den elf grössten Crowdsourcing-Plattformen registriert, wie eine Untersuchung der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) zeigt. Laut einem neuen McKinsey-Report arbeitet in den USA und in den EU-15-Staaten bereits jeder Fünfte bis jeder Dritte – insgesamt 162 Millionen Menschen – in unabhängigen Arbeitsverhältnissen (siehe Grafik). Rund 30 Prozent davon beziehen daraus ihr Haupteinkommen.

«Der Report zeigt, dass bisherige Statistiken die Gig Economy massiv unterschätzt haben», sagt Jacques Bughin, Co-Autor und Direktor des McKinsey Global Institute. Ausserdem widerlege er einige gängige Annahmen: «Der unabhängige Arbeitsmarkt wird nicht von Jungen dominiert. Sie machen nur 25 Prozent aus. Und er umfasst sämtliche Einkommensklassen, Bildungsschichten, Industrien sowie beide Geschlechter.» Und auch in der Schweiz gehen gemäss einer aktuellen Deloitte-Studie 25% aller Personen im erwerbsfähigen Alter temporären, zusätzlichen oder projektbasierten Arbeiten nach.

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Bisherige Statistiken haben die Gig Economy massiv unterschätzt. Dieser Arbeitsmarkt umfasst alle Industrien und Einkommensklassen.

Unabhängig und flexibel oder unsicher und unterbezahlt?

Gewisse Vorteile der Gig Economy liegen auf der Hand: Firmen erhalten mehr Arbeitskräfte und eine Vielfalt an Ideen für weniger Geld. Und Arbeitnehmern bietet sich die Möglichkeit zur Unabhängigkeit, Flexibilität und Selbstbestimmung. Zudem wird die Chance auf Teilzeitjobs erhöht, was gerade Studenten, Müttern und Vätern oder Senioren neue Möglichkeiten eröffnet.

Kritiker sehen in der Gig Economy aber die Gefahr von digitalen Tagelöhnern, die ohne die Sicherheit einer festen Anstellung leben müssen. Ein Grafiker, der auf einer Online-Plattform seine Services anbietet, muss sich beispielsweise gegen internationale Konkurrenz durchsetzen, die zu günstigsten Konditionen arbeitet. Da die digitalen Dienstleister als Selbständigerwerbende gelten, müssen sie meist selbst für die Sozialabgaben aufkommen, die sie auf Online-Plattformen anbieten. Nicht nur Gewerkschaften, sondern auch liberale Wirtschaftsexperten wie Lynda Gratton, Professorin an der London Business School und Autorin von «Die Zukunft der Arbeit» und «The 100-Year Life», warnen deshalb: «So reizvoll die Vorteile für Menschen ohne Festanstellung auch aussehen mögen: Unsere Gesellschaft ist darauf noch ungenügend vorbereitet.» Beispiele dafür gibt es laut Gratton viele: «Versuchen Sie mal eine Hypothek zu bekommen ohne gesichertes Einkommen. Oder fürs Alter zu sparen, mit unregelmässigem Salär und ohne Arbeitgeberbeiträge.» Eine aktuelle Studie in Deutschland bestätigt solche Bedenken: Lediglich zwei Drittel der befragten hauptberuflichen «Crowdworker» versichern sich gegen Krankheit und Arbeitslosigkeit. Und für das Alter sorgt nur etwas mehr als die Hälfte vor.

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So reizvoll die Vorteile für Menschen ohne Festanstellung auch aussehen mögen: Unsere Gesellschaft ist darauf noch ungenügend vorbereitet.

Zwischen Verbot und Laissez-faire

Wie wir künftig mit dem Phänomen der Gig Economy gesellschaftlich umgehen, gilt es auszuhandeln. Dass wir uns schwer damit tun, zeigt die Debatte um den Taxidienst Uber, wo die Politik derzeit zwischen den Extremen des totalen Verbots (z. B. Frankreich) und des Laissez-faire (z. B. USA) schwankt. Auf nationaler Ebene, aber auch in der EU, wird derzeit diskutiert, ob es arbeits- und steuerrechtliche Rahmenbedingungen für die Gig Economy braucht, damit die Mikrojobs künftig eine attraktive und nachhaltige Option für die Soloselbständigen bedeuten.

Individualisierung der Vorsorge

Ein zentraler Punkt ist dabei die Sicherung der Altersvorsorge. «Die Veränderung der Arbeitsmodelle wird zwangsläufig dazu führen, dass wir die Vorsorge neu denken und noch besser auf die individuellen Bedürfnisse ausrichten müssen», sagt Markus Leibundgut, CEO von Swiss Life Schweiz. Letztlich gehe es darum, dass die Berufstätigen sich trotz rasch ändernder Tätigkeits- und Berufssituationen auf eine Vorsorge verlassen können, die diesen Namen auch verdient: «Dabei sind alle gefordert: die Anbieter von Vorsorgelösungen, die staatlichen Institutionen und die Versicherten selber.»

Klar ist aber auch: Frühzeitig an die private Vorsorge denken ist gerade für die Gig Worker ohne berufliche Vorsorge elementar. «Je mehr wir die eigene Vorsorge auf unsere Lebenssituationen, Präferenzen und Möglichkeiten ausrichten», so Markus Leibundgut, «desto wichtiger wird die Eigenverantwortung des Einzelnen.» 

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Die Veränderung der Arbeitsmodelle wird zwangsläufig dazu führen, dass wir die Vorsorge neu denken und noch besser auf die individuellen Bedürfnisse ausrichten müssen.

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