Smartphones machen uns zwar unabhängiger, aber sie verleiten auch zu permanenter Ablenkung und ständiger Verfügbarkeit. Wächst mit den «Digital Natives» eine Generation heran, die selbstbestimmt vom Internet zu profitieren weiss – oder vielmehr von ihren Geräten fremdbestimmt wird? Die Wissenschaft ist sich uneins.

Noch nie war die digitale Technik so allgegenwärtig wie heute: In der Schweiz verbringen 11- bis 15-Jährige 4,5 Stunden pro Tag vor einem Bildschirm (ob Computer, Smartphone oder TV). Am Wochenende sind es sogar 7,4 Stunden. Das zeigt die viel beachtete HBSC-Studie, die unter der Schirmherrschaft der Weltgesundheitsorganisation steht. In Deutschland haben bereits neun von zehn 13- bis 14-Jährige einen mobilen Internet-Zugang. Und in Frankreich greift jeder dritte 18- bis 24-Jährige nach dem Aufwachen als Erstes nach dem Smartphone.

Was bedeutet dieser Technologieschub für die Jugend? Führt er zur Abhängigkeit und Fremdbestimmung der «Digital Natives», die nach 1980 geboren sind? Oder wächst vielmehr eine in höchstem Masse selbstbestimmte Generation heran, die ihre digitalen Freiheiten nutzt, um auf verschiedensten Kanälen kreativ zu kommunizieren und sich über die Welt so gut zu informieren wie noch keine zuvor?

Die Wissenschaft ist sich uneins und teilt sich – überspitzt formuliert – in Pessimisten und in Optimisten: 

Die Pessimisten

Sherry Turkle ist keine Wissenschaftlerin, der man Technologiefeindlichkeit vorwerfen könnte. Die Professorin lehrt am renommierten MIT (Massachusetts Institute of Technology), wo das Gremium W3C sitzt, das die Standards im World Wide Web definiert. Trotzdem ist die Soziologin, welche die Beziehung des Menschen zum Computer erforscht, beunruhigt. «Wir befinden uns in einem Zustand der Aufmerksamkeitsverwirrung», warnt sie. «Heute sind die Geräte permanent eingeschaltet und wir teilen unsere Aufmerksamkeit ununterbrochen zwischen den Menschen auf, die wir per Handy erreichen können, und denen, mit welchen wir im gleichen Moment zusammen sind.» Momente der Stille seien selten geworden. Insbesondere junge Menschen verlören dadurch die Fähigkeit, alleine zu sein. Erst das Alleinsein aber ermögliche es, sich selber zu finden: «Einer Generation, die Alleinsein als Vereinsamung erfährt, mangelt es an Autonomie.»

Diese mangelnde Autonomie und Fremdbestimmung durch das permanente Nutzen sozialer Netzwerke, durch den Druck, ständig verfügbar sein zu müssen, und durch stundenlanges Surfen beurteilt Manfred Spitzer noch kritischer. Das führe nicht nur zu Sucht, sondern auch zu Depressionen und Angstzuständen, ist der deutsche Psychiater und Hirnforscher überzeugt. Spitzer ortet bei den «Digital Natives» gar die Gefahr einer «digitalen Demenz»: «Man kann das Gehirn mit einem Muskel vergleichen: Wenn er benutzt wird, wird er grösser», schreibt er. «Lagern wir geistige Arbeit also in immer grösserem Masse an die digitalen Medien aus, dann hat dies negative Auswirkungen auf die Struktur unseres Gehirns, auf unsere Gehirnbildung.»

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Wir müssen zwischendurch alleine sein. In der Einsamkeit finden wir uns selbst.

Die Optimisten

Andere dagegen warnen vor Alarmismus und fordern eine differenzierte Betrachtung. «Man muss aufpassen, dass man nicht in die Nostalgiefalle tappt: Vor dem Smartphone war nicht alles besser. Nur anders», sagt Philippe Wampfler, der Schweizer Pädagoge und Buchautor («Generation Social Media»). Zwar sieht auch er problematische Aspekte einer übermässigen Mediennutzung, die sich heute schneller auf Kinder und Jugendliche auswirken als früher. «Es gibt aber auch Tools, mit denen sehr viel Unabhängigkeit erreicht werden kann, wie zum Beispiel Youtube oder Twitter, die Vernetzung über den Austausch von Informationen erlauben», sagt Wampfler und meint: «Will ich dafür einstehen, dass der freiere und schnellere Fluss von Information, der das Internet mit sich gebracht hat, ein Fortschritt ist, so muss ich Optimist bleiben.»

Auch die amerikanische Bildungsspezialistin und Autorin Anya Kamenetz («The Art of Screen Time») betont die Chancen durch die Digitalisierung. Sie vergleicht sie originell mit Lebensmittelallergien: «Für die meisten Kinder sind Erdnüsse einfach Erdnüsse.» Wenige hingegen würden darauf allergisch reagieren.

Tatsächlich scheint die Fremdbestimmung durch digitalen Konsum für die meisten keine Gefahr zu sein. Zum einen können Jugendliche lernen, selbstbestimmt, kreativ und mündig mit neuen Medien umzugehen. Zum andern gibt auch die gerade erschienene deutsche «Kinder-Medien-Studie» Entwarnung: Kinder sind immer noch am liebsten direkt mit ihren Freunden zusammen und genauso gerne, wie sie etwas mit dem Smartphone machen, lesen sie auch oder spielen Fussball.

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Man muss aufpassen, dass man nicht in die Nostalgiefalle tappt: Vor dem Smartphone war es nicht besser. Nur anders.

Selbstbestimmung in allen Lebensbereichen

Für die überwiegende Mehrheit der «Digital Natives» – sind Optimisten wie Kamenetz denn auch überzeugt – bringen die mobilen Geräte mehr Selbstbestimmung in den verschiedensten Lebensbereichen. Die Kinder sind für die Eltern dank Handys notfalls permanent erreichbar, was ihnen erlaubt, schon früh alleine unterwegs zu sein. Das fördert die Eigenverantwortung und Selbständigkeit. Smartphones erleichtern überdies nicht nur die soziale Vernetzung, sie erleichtern auch die Vernetzung von Interessen und damit auch die politische Mit- und damit Selbstbestimmung. Und auf dem Arbeitsmarkt bietet sich dank der Digitalisierung und der GIG-Economy die Möglichkeit zur Solo-Selbständigkeit und damit auch zu mehr Unabhängigkeit, Flexibilität und Selbstbestimmung.

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Für die meisten Kinder sind Erdnüsse einfach Erdnüsse. Wenige hingegen reagieren darauf allergisch. So ist es auch mit dem Handy.

Eine Generationenfrage?

Einig sind sich die Experten in einer Frage: Grundsätzlich lassen sich die Auswirkungen des digitalen Konsums und die Gefahr einer allfälligen Fremdbestimmung nicht auf die junge Generation reduzieren. MIT-Professorin Sherry Turkle sagt: «Alle sind abgelenkt, das Alter ist ziemlich egal: Studenten simsen während des Unterrichts, Eltern simsen beim Abendessen mit der Familie oder während sie mit den Kindern im Park sind.» Nur schon die Präsenz eines Smartphones verändere die Atmosphäre, so die Forscherin.

Vermutlich wird erst die Langzeitforschung abschliessende Antworten über die Auswirkungen und allfällige Kollateralfolgen des Online-Alltags auf die «Digital Natives» liefern. Doch schon heute ist klar: Der Mensch ist den Verlockungen der digitalen Welt keineswegs hilflos ausgeliefert. Er kann selber bestimmen. Dabei geht es nicht mehr darum, Smartphones gar nicht mehr zu verwenden – sondern smarter. 

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