Justin Derbyshire, CEO von HelpAge International, weiss, wie sehr ältere Menschen im Alltag diskriminiert werden. Die gemeinnützige Organisation mit Sitz in London setzt sich für eine UN-Konvention über die Rechte älterer Menschen ein.

Wie definieren Sie Altersdiskriminierung?
Es geht darum, dass Menschen aufgrund ihres Alters diskriminiert und stereotypisiert werden. Wir hören bei unserer Arbeit immer wieder von älteren Menschen, dass ihnen Dienstleistungen verweigert werden, dass sie in ihrem Umfeld ausgegrenzt werden, dass ihre Familien ihnen die Entscheidungsfreiheit entziehen und wie erniedrigend das alles sein kann. Wir sehen, wie unterschiedliche Arten von Altersdiskriminierung das Selbstvertrauen zerstören und wie sie sich auf das Wohlergehen eines Menschen auswirken können. Leider ist Altersdiskriminierung in unseren Gesetzen, in den Medien und oft auch in unserem eigenen Verhalten und unserer Einstellung tief verwurzelt.

Der Psychiater Rober Butler führte den Begriff der Altersdiskriminierung 1969 ein – im selben Jahr kam auch der Begriff des Sexismus auf. Im Gegensatz dazu ist die Altersdiskriminierung immer noch wenig bekannt. Wieso?
Sehen Sie sich die Fortschritte bei den Frauen-, Kinder- und Behindertenrechten an, sie haben verschiedene Faktoren gemeinsam. Alle erregten sie Aufmerksamkeit und führten Mitglieder der betroffenen Gruppen zusammen. Wir wollen darauf aufmerksam machen, dass es keine UN-Konvention zur Altersdiskriminierung gibt. Mit den demografischen Veränderungen ist Altersdiskriminierung heute überall in der Welt aktuell. Die Verschiebungen in der Bevölkerungszusammensetzung zwischen 1969 und heute sind enorm – es gibt viel mehr ältere Menschen. Altersdiskriminierung gab es schon immer, aber das grössere Bewusstsein dafür und die Tatsache, dass viel mehr Menschen davon betroffen sind, sorgen nun für Aufmerksamkeit.

In einer Botschaft zum 1. Oktober 2016, dem Internationalen Tag der älteren Generation, rief UN-Generalsekretär Ban Ki-moon dazu auf, Altersdiskriminierung «entschlossen abzulehnen», und forderte «Massnahmen zur Beendigung dieser Menschenrechtsverletzung». Im Gegensatz zu anderen Formen der Diskriminierung ist die Altersdiskriminierung aber gesetzlich nicht verboten. Ban Ki-moons Aufruf scheint mir ein Tiger ohne Krallen. 
Ich finde es toll, dass sich Ban Ki-moon gegen die Diskriminierung älterer Menschen einsetzt. Er ist für uns eine der wichtigsten Stimmen, wenn es um die Probleme geht, mit denen ältere Menschen überall auf der Welt zu kämpfen haben. Bei HelpAge International gehen wir auf diese Probleme in Sachen Gesundheit, Pflege, Gewalt und Missbrauch ein. Wir geben ihnen eine Plattform, damit sie gehört werden, wir treiben unser politisches Anliegen voran und treten für Veränderungen ein.

Leider ist Altersdiskriminierung in unseren Gesetzen, in den Medien und oft auch in unserem eigenen Verhalten und unserer Einstellung tief verwurzelt.

Was können ältere Menschen selbst gegen Diskriminierung tun? 
Wichtig ist, dass das Bewusstsein dafür wächst. Wir unterstützen verschiedene Vereinigungen und Organisationen auf der ganzen Welt, indem wir ihnen zeigen, wie Altersdiskriminierung in der Gesellschaft aussieht. Viele sind sich gar nicht bewusst, mit welchen grundlegenden Hindernissen ältere Menschen jeden Tag konfrontiert sind. Altersdiskriminierung wurde schon viel zu lange toleriert. Ältere Menschen müssen sich zusammenschliessen und den Staat dazu bringen, die Diskriminierung zu beenden.

Vielleicht mit einem Streik der Grosseltern? In der Schweiz kümmern sie sich jährlich über 100 Millionen Stunden um ihre Enkel. Das hätte dann schon Folgen.
Ich glaube nicht, dass ein Streik die Lösung wäre, aber wir können das Bewusstsein stärken und die lokalen, regionalen und nationalen Regierungen unter Druck setzen. Was wir wirklich brauchen, ist eine UN-Konvention; das würde auf der ganzen Welt viel bewirken. Eine UN-Konvention würde allen Akteuren ein Instrument in die Hand geben, mit dem sie in ihrem Land Fortschritte erzielen und Veränderungen erwirken könnten.

In einer neuen Umfrage der WHO waren 60% der Meinung, älteren Menschen werde nicht der Respekt entgegengebracht, den sie verdienen.

Wo ist die Altersdiskriminierung am stärksten? 
Überall auf der Welt. Es gibt keine bestimmte Region. Ältere Menschen haben es überall schwer. In einer neuen Umfrage der WHO waren 60 Prozent der Meinung, älteren Menschen werde nicht der Respekt entgegengebracht, den sie verdienen. An der Umfrage nahmen über 83 000 Personen jeden Alters aus 57 Ländern teil. Als ich Nepal und Moldawien besuchte, fiel mir auf, dass die zwei Länder vor den gleichen Herausforderungen stehen: Jüngere Menschen zwischen 20 und 50 wandern aus den ländlichen Gebieten ab. Es bleiben nur ganz junge und ältere Menschen zurück, alle anderen ziehen in die Stadt. Und da ältere Menschen beim Staat keine Priorität geniessen, werden Dienstleistungen eingestellt. Auch in humanitären Krisensituationen tritt diese Form der Diskriminierung auf. Wir sprachen mit Flüchtlingen im Südsudan und in der Ukraine und sie sagten, sie seien nicht nach ihren Bedürfnissen gefragt worden. In unserem Bericht «The Older Voices in Humanitarian Crises» untersuchten wir 16 000 humanitäre Projekte zwischen 2010 und 2014 und fanden heraus, dass weniger als ein Prozent der humanitären Finanzmittel an ältere Menschen geht. Das ist institutionalisierte Altersdiskriminierung. Die Bedürfnisse älterer Menschen werden weder erfasst noch erfüllt. Migration ist im Moment ein grosses Thema in Europa, aber das UNHCR sammelt keine Daten zu Menschen über 49. Wer älter ist, zählt nicht. Eine Anpassung an die demografischen Veränderungen gibt es nicht.

Wir fanden heraus, dass weniger als ein Prozent der humanitären Finanzmittel an ältere Menschen geht. Das ist institutionalisierte Altersdiskriminierung.

Waren Sie selbst schon einmal Zeuge solcher Diskriminierung?
Ja, bei der Arbeit, aber es betraf mich nicht persönlich. Ich sass in humanitären Koordinationsmeetings, bei denen ältere Menschen nicht auf der Traktandenliste standen. Und ich nahm an Sitzungen mit Spendern teil, bei denen die Vorschläge der Älteren abgelehnt wurden, da sie keine schutzbedürftige Gruppe darstellten. Wir müssen unser Augenmerk auf die gesamte Bevölkerung richten, auf alle, die von einer Krise betroffen sind.

Bei der Diskriminierung älterer Menschen beunruhigt mich auch, dass wir sie schon sehr stark verinnerlicht haben. 
Wir haben Fokusgruppen gebildet und Rollenspiele mit älteren Menschen gemacht. Da ist der Groschen gefallen – sie sahen, dass sie diskriminiert wurden, ihnen aufgrund ihres fortgeschrittenen Alters Dienstleistungen verweigert oder sie von ihren Familien ausgegrenzt wurden. Diese Probleme müssen wir angehen. Altersdiskriminierung ist auch eine Frage der gesellschaftlichen Normen und der Erwartungen älterer Menschen, welche Rolle sie in der Gesellschaft spielen wollen. Eine unserer Herausforderungen ist es, diese gesellschaftlichen Normen aufzubrechen.

Interview: Ruth Hafen / Bilder: HelpAge International

Justin Derbyshire

Justin Derbyshire

CEO von HelpAge International

Justin Derbyshire ist CEO von HelpAge International, einem globalen Netzwerk aus Organisationen, die älteren Menschen dabei helfen, ihre Rechte wahrzunehmen, gegen Diskriminierung anzukämpfen und Armut zu bewältigen. Derbyshire widmet seine Karriere der Humanitär- und Entwicklungsarbeit. Er stiess 2014 als Director of Programmes zu HelpAge International und war zuständig für die regionalen Büros in Asien, Afrika, Lateinamerika und der Karibik sowie für das humanitäre Team. Bis heute hat er HelpAge-Projekte in Bangladesch, Kenia, Myanmar, Moldawien, Nepal, der Ukraine, auf den Philippinen, auf Haiti und in Peru besucht.

HelpAge International

HelpAge International

HelpAge International ist das Sekretariat des HelpAge Global Network, eines Netzwerks aus verschiedenen Organisationen und Menschen, die sich weltweit für die Rechte und Bedürfnisse älterer Menschen engagieren.

Ihre Vision ist eine Welt, in der überall jede ältere Person sagen kann:

  • Ich habe ein ausreichendes Einkommen.
  • Ich bin gesund, werde bestens gepflegt, fühle mich wohl und lebe in Würde.
  • Ich fühle mich sicher, bin frei von jeglicher Diskriminierung, Gewalt und Misshandlung.
  • Meine Stimme wird gehört.

HelpAge International unterstützt über 120 Netzwerkmitglieder in 75 Ländern und erbringt in 18 Ländern direkt über eigene Projekte Dienstleistungen für ältere Menschen. Zusammen mit seinen Netzwerkmitgliedern will HelpAge International positive Veränderungen in der Politik erwirken und die Einstellung gegenüber älteren Menschen ändern.

This chair rocks
This chair rocks

Buchtipp: Yo, is this ageist?

Von Kindesbeinen an lernen wir, dass es traurig ist, alt zu sein, dass wir uns wegen Falten schämen sollten, dass wir Anti-Ageing-Produkte kaufen müssen und dass alte Menschen zu nicht viel zu gebrauchen sind. Ashton Applewhite glaubte das auch – bis sie erkannte, woher diese Vorurteile stammen und welchen Schaden sie anrichten können. Dann schrieb sie ein Buch darüber: This Chair Rocks. Amüsant zu lesen, sehr gut recherchiert und in vielerlei Hinsicht ein wahrer Augenöffner. Das Buch erklärt die Wurzeln der Altersdiskriminierung, untersucht Mythen und Stereotypen. Es behandelt Altersdiskriminierung am Arbeitsplatz und im Schlafzimmer, kritisiert die Darstellung älterer Menschen als Last für die Gesellschaft und beschreibt, wie eine altersfreundliche Welt aussehen könnte. Im Jahr 2012 startete Applewhite ihren Blog «Yo, is this ageist?», in dem Leser sie fragen können, ob etwas, das sie gesehen, gehört oder getan haben, altersdiskriminierend ist. Im Oktober 2016 wurde Applewhite von der PBS-Site Next Avenue in ihrer jährlichen Liste der 50 grössten Einflusspersonen in Altersfragen zur Einflussperson des Jahres gewählt.

Ashton Applewhite. This Chair Rocks: A Manifesto Against Ageism. Networked Books, 2016. Erhältlich als Taschenbuch oder als E-Book (nur auf Englisch).

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