Verena Kast, ehemalige Professorin für Psychologie und renommierte Sachbuchautorin, spricht über ihr aktuelles Buch «Alter – immer für eine Überraschung gut». Für ein gutes Alter, findet sie, brauche es Akzeptanz, Seelenpflege und eine gut trainierte Vorstellungskraft.

Für mich gehört zur Selbstbestimmung auch, dass ich so altern darf, wie ich mir das vorstelle.

Frau Kast, Sie schreiben, das Alter zwischen 70 und 80 gelte als die emotional befriedigendste Phase des Lebens. Wieso?
Zum einen stehen wir nicht mehr im Erwerbsleben und können noch tun, was wir wollen, aber wir müssen nichts mehr. Anderseits sind wir heute in dieser Lebensphase noch nicht wirklich alt, wir sind fit. Sich nochmals neu aufs Leben einzulassen, den eigenen Interessen nachzugehen – das belebt ungemein.

Man muss nichts mehr – sind Menschen in diesem Alter weniger kompromissbereit?
Wichtig für das Wohlbefinden ist, dass man in diesem Alter weiss, wie die Welt funktioniert. Die Dinge sind, wie sie sind. Man kann sie auch so annehmen. Diese Akzeptanz führt wiederum zu einer Kompromissbereitschaft. Aber faule Kompromisse gehen viele nicht mehr ein. Und man muss sich nicht mehr darüber ärgern, wenn der Partner schon seit 40 Jahren die gleiche Marotte hat.

Im Stil von «Ich kann mich ärgern, bin aber nicht dazu verpflichtet»?
(lacht) Ärger an sich ist ja etwas Sinnvolles, aber man muss ja nicht im Ärger baden; viele tun aber genau das. Wer in jungen Jahren im Ärger badet, hört auch im Alter nicht damit auf.

Eigentlich ist gutes Altern doch das Paradigma für gutes Leben. Altern ist eine permanente Herausforderung.

Was heisst das für Paarbeziehungen, wenn 70 statt 50 gemeinsame Jahre anstehen? 
Das ist die eine Variante, die andere ist die mit den Lebensabschnittspartnern. Paare, die gut zusammenpassen, funktionieren auch im hohen Alter gut. Sie wissen, wo der andere Unterstützung braucht. Bei anderen wird irgendwann klar, dass sie nicht so lange zusammenbleiben wollen. Der erste Scheidungshöhepunkt tritt ein, wenn die Kinder aus dem Haus sind. Zwischen 60 und 65 schnellen die Scheidungsraten noch einmal in die Höhe. Mit der Pensionierung muss ja nochmals ein neues, gemeinsames Leben gestaltet werden. Dann zeigt sich bei vielen, wie unterschiedlich die Interessen geworden sind.

Werden sich künftig auch mehr 80-Jährige scheiden lassen?
Alles ist möglich. Allerdings glaube ich nicht so daran, dass sich die 80-Jährigen noch trennen. Da scheidet dann doch meistens der Tod. 

Erfahren wir Verliebtsein, Liebe, Beziehungen mit 70 anders als mit 20?
Da geht es um etwas ganz anderes. Mit 20 verliebt man sich, will eine Beziehung eingehen, vielleicht eine Familie gründen. Mit 70 ist man glücklich, einen Menschen zu finden, mit dem die Gefühle noch einmal zum Leben erweckt werden, wo es Nähe, Geborgenheit und auch Sexualität gibt. Wobei Sex mit 70 eine ganz andere Geschichte ist wie mit 20. Er ist ganzheitlicher, es geht mehr um wirkliche Nähe und Zärtlichkeit. Die Liebesfähigkeit im Alter ist viel umfassender.

Im Alter können wir die Vorstellungskraft auch für die Zukunft nutzen.

Um unseren Körper im Alter auf Vordermann zu bringen, gibt es künstliche Gelenke, Herzschrittmacher und vieles mehr. Wie können wir die Seele in Schuss halten?
Diese körperlichen Hilfsmittel sorgen ja auch für ein befriedigendes Alter. Stellen Sie sich vor, es gäbe keine Brillen! Aber letztlich sind das alles Dinge, die wir kaufen, die andere für uns machen. Um unsere Seele müssen wir uns selbst kümmern. Ich bezeichne das gerne mit dem altmodischen Wort Seelenpflege. Es geht darum: Habe ich Freude? Was interessiert mich? Was belebt mich? Es ist wichtig, dass wir diesen Dingen nachgehen. Schönes lässt uns innerlich aufatmen. Ganz wichtig dabei ist die Vorstellungskraft. Interessanterweise wird sie im Alter nicht schlechter. Unser Denken wird langsamer, dadurch wirken wir im Gegensatz zu früher vielleicht weniger intelligent. Aber die Vorstellungskraft bleibt, und wir können sie verbessern. Alte Leute sprechen gerne von der Vergangenheit; die Erinnerung ist eine Art, die Vorstellungskraft einzusetzen. Wichtig ist, dass wir uns nicht nur an das Schlechte erinnern, sondern vor allem an das Gute. Nichts weltbewegend Grosses, sondern schöne kleine Begebenheiten. Anderen von schönen Erlebnissen zu erzählen, sich mit ihnen zusammen zu erinnern, ist ungemein belebend für die Psyche.

Wir sollen also unsere Vorstellungskraft wie einen Muskel trainieren?
Genau, wobei Muskeltraining ja immer auch mit grosser Anstrengung verbunden ist, während das Training der Vorstellungskraft einfach Freude macht. Im Alter können wir die Vorstellungskraft auch für die Zukunft nutzen. Meine Nachbarin ist 98 und sie zweifelte neulich daran, ob sie den nächsten Frühling noch erleben kann und will. Da sie den Frühling aber so liebt, stellt sie sich einfach vor, jetzt sei Frühling. Sie schöpft für diese Vorstellung aus der Erinnerung und schafft sich so ein Stück Zukunft.

Anderen von schönen Erlebnissen zu erzählen, sich mit ihnen zusammen zu erinnern, ist ungemein belebend für die Psyche.

Ihr Buch heisst «Altern – immer für eine Überraschung gut». Welche Überraschungen erleben Sie?
Ich fasse diese Überraschungen sehr weit. Eine Überraschung kann ja auch sein, dass einem plötzlich etwas wehtut, von dem man nicht mal wusste, dass man es hat. Mit diesen Überraschungen, Veränderungen müssen wir umgehen. Ich habe immer mit jungen Menschen gearbeitet. Jetzt bin ich zunehmend dankbar, dass es diese Jungen gibt und dass sie das Leben weitertragen. Da ist keine Wehmut – ich denke nicht, jetzt machen die das und ich nicht mehr. Ich bin dankbar und interessiert daran, wie sie es machen. Überraschend finde ich auch, dass ich jetzt emotional viel ausgeglichener bin als früher. Es geht um die Akzeptanz der Realität. Eigentlich ist gutes Altern doch das Paradigma für gutes Leben. Altern ist eine permanente Herausforderung.

Sie sind jetzt 73: Was verbinden Sie persönlich mit einem selbstbestimmten Leben im Alter?
Ich habe gearbeitet und gespart, damit ich mein Leben jetzt so gestalten kann, wie ich möchte. Aber es ist ganz klar: Ich werde zunehmend mehr Hilfe brauchen. Es wird mir wohl schwerfallen, diese auch anzunehmen. Aber ich werde es lernen. Ich habe gerade das Dach meines Hauses renoviert und mit Fotovoltaik ausgerüstet. Die nächsten 20 Jahre möchte ich schon noch hier leben. Für mich gehört zur Selbstbestimmung auch, dass ich so altern darf, wie ich mir das vorstelle. Es ist eine Schreckensvorstellung, wenn jetzt plötzlich alle finden, mit 85 müsse man nochmals in den Englischkurs oder ein exotisches Hobby pflegen. Überhaupt, all diese Vorstellungen, was man so muss: Bis 65 arbeiten, danach anständig altern und dabei bitte den gerade gültigen Vorstellungen entsprechen. Die Herausforderung ist doch, dass wir uns zugestehen können, so alt zu sein, wie wir sind. Und schliesslich finde ich es wichtig, abschiedlich zu leben. Gerade weil das Ende unweigerlich näherkommt, sollten wir im Moment leben, ihn geniessen. Natürlich ist das für jüngere Menschen auch wichtig, aber im Alter geht das besser. Es geht darum, zu verweilen. Den Garten länger zu betrachten, als man das früher getan hat.

Interview: Ruth Hafen / Bilder: Lindauer Psychotherapiewochen, Palma Fiacco

Buchcover
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Buchtipp

Verena Kast: "Altern – immer für eine Überraschung gut" Patmos Verlag, 2016. Auch als E-Book erhältlich.

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Verena Kast

Präsidentin des C.G. Jung-Instituts Zürich

Verena Kast (geboren 1943) studierte Psychologie, Philosophie und Literatur und promovierte in Jungscher Psychologie. Sie war Professorin für Psychologie an der Universität Zürich, Dozentin und Lehranalytikerin am dortigen C.G. Jung-Institut und Psychotherapeutin in eigener Praxis. Sie hat viel publiziert zur Psychologie der Emotionen, zu Grundlagen der Psychotherapie und der Interpretation von Märchen und Träumen. Seit April 2014 ist sie Präsidentin des C.G. Jung-Instituts im zürcherischen Küsnacht. Sie lebt in St. Gallen.

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