Während andere prophezeien, dass sich Länder wie Deutschland abschaffen, sagt der Schweizer Ökonom Thomas Straubhaar den Untergang erst einmal ab. Für ihn hat der demografische Wandel durchaus auch positive Seiten.

Das grösste Vermögen, dass die meisten von uns haben, ist die Arbeitskraft. Darum muss die Arbeitsphase möglichst lange andauern.

Thomas Straubhaar, Sie sind jetzt 58 und stehen vor dem letzten Drittel Ihres Lebens.
Hoffentlich, ja!

Wie lange werden Sie arbeiten?
Die Frage habe ich mir noch nie gestellt, weil ich einen Beruf habe, der mir viel Spass macht und den ich relativ altersunabhängig ausüben kann. Ich hoffe, dass ich noch lange arbeiten kann und nicht durch eine gesetzliche Altersbeschränkung gezwungen werde, aufzuhören.

Aber als Professor mit Lehrstuhl wird die Pensionierung Sie trotzdem ereilen...
Mit 66 werde ich in den Ruhestand gesetzt. Aber ich werde weiter forschen und Vorlesungen halten. Mir ist jeden Tag bewusst, wie bereichernd es für mich älter werdenden Menschen ist, mit jungen Leuten zusammenzuarbeiten. Das ist mein täglicher Jungbrunnen.

Wie halten Sie es mit der Lebensgestaltung nach der Pensionierung? Früher hörte man oft, «wenn ich Zeit habe als Rentner, ja dann…» Wenn Sie lange arbeiten, müssen die Grenzen auch hier fliessender sein.
Ganz klar. Die Realität zeigt immer wieder, dass die Strategie von früher nicht aufgeht. Die Leute, die sich das Aufschieben auf später so zurechtlegen, sind als Pensionierte oft frustriert, weil sie verlernt haben, wie man etwas Neues anfängt. Diejenigen, die immer aktiv waren und das getan haben, was ihnen im Moment richtig schien, werden diese Haltung auch im Alter weiterleben. Ich finde es tragisch, dass viele Leute Ziele fürs Alter aufsparen und es nicht wagen, etwas Neues zu beginnen. Wir müssen ein Leben lang aktiv sein und nicht bis ins Alter warten, um Lebensträume und -ziele zu verwirklichen.

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«Es ist billiger, mit Prävention und entsprechenden Strukturen die Arbeitswelt so zu gestalten, dass jemand auch bis 70 arbeiten kann, anstatt alles auf die Phase zwischen 35 und 50 zu konzentrieren.»

Oft steht da aber das Pflichtbewusstsein im Weg…
Das mag stimmen. Bei Brüchen im Leben ist eine Veränderung wohl nicht so einfach positiv umzusetzen. Aber wenn es darum geht, eine Sprache zu lernen, Sport zu treiben oder ein neues Land kennenzulernen ist es sinnvoller, es etappenweise zu tun und nicht in geballter Ladung im Alter. Oft finden gerade die Leute, die viel aufgeschoben haben, im Alter nicht die Kraft, um alles umzusetzen. Wer aber nie lernt, Neues anzupacken, lernt es auch im Alter nicht mehr.

Wann haben Sie zuletzt Neues angepackt?
Ende August 2014 habe ich meinen Traumjob aufgegeben. Ich leitete eines der grossen Wirtschaftsforschungsinstitute in Deutschland, war Chef von über 50 Mitarbeitenden und verantwortlich für ein Budget von mehreren Millionen Euro. Ich habe dieser prominenten Position nach 15 Jahren freiwillig den Rücken gekehrt. Ich wollte etwas Neues machen, nahm mir ein Jahr Zeit, um Projekte zu beginnen, ein Buch zu schreiben und auch um Nord- und Südamerika zu bereisen.

In Ihrem neuen Buch postulieren Sie, der Fachkräftemangel sei ein selbstverschuldeter Führungsmangel. Bei den Arbeitgebern sind ältere Berufstätige nicht sehr beliebt. Wenn die Jungen fehlen, müssen die Alten länger jung bleiben. Wie soll das gehen?
Dadurch, dass wir alle länger gesünder leben, wird sich das Arbeitsangebot verändern. Wenn die Jungen nicht nachrücken, werden die Älteren länger arbeiten. Wichtig ist, dass wir nicht nur länger leben, sondern uns auch lebenslang weiterbilden, entsprechende Strukturen schaffen und Anreize geben. Bildung ist die beste Versicherung gegen Altersarmut, gegen Renten, die tiefer sein werden, als die Leute sich erhoffen. Wir müssen in allen Lebensphasen produktiver sein als in der Vergangenheit.

Welche Anreize braucht es für Frauen, um länger erwerbstätig zu sein? Kinderbetreuung?
Ja, das trifft sicher zu, aber eher für die Schweiz als für Deutschland. Viele Untersuchungen zeigen, dass Frauen bei der Kinderfrage nicht einmal so sehr die direkten Kosten im Auge haben. Viel wichtiger für die meisten ist die Frage, wie Kinder ihre berufliche Entwicklung bremsen, verändern oder sogar verunmöglichen. Muttersein darf nicht die Karriere in Frage stellen. Hier muss nicht der Staat handeln, sondern die Wirtschaft. Die Unternehmen stehen in der Verantwortung. Sie sind es ja, die den Fachkräftemangel beklagen. Sie sollen Voraussetzungen schaffen, dass Frauen auch mit Kindern Karriere machen können.

Bildung ist die beste Versicherung gegen Altersarmut, gegen Renten, die tiefer sein werden, als die Leute sich erhoffen.

Welche Voraussetzungen?
Betriebskitas etwa, aber auch Seniorenbetreuung. Durch den demografischen Wandel wird auch die private Altenpflege immer wichtiger. Auch hier sind es wohl vor allem die Frauen, die das übernehmen müssen. Zudem sollten sich die Unternehmen überlegen, wie sie verantwortungsvolle Führungsjobs so gestalten, dass sie auch in Teilzeitarbeit funktionieren. Natürlich: Verantwortung ist unteilbar, aber Führung ist teilbar. Es wäre im Eigeninteresse der Firmen – sie können so kurzfristig Frauen gewinnen, binden und dem Fachkräftemangel entgegenwirken. Es ist viel billiger – für die Unternehmen, für die Gesellschaft und die Familien erst recht –, mit Prävention und entsprechenden Strukturen die Arbeitswelt so zu gestalten, dass jemand auch bis 70 arbeiten kann, anstatt alles auf die Phase zwischen 35 und 50 zu konzentrieren. Denn das hat zur Folge, dass die Leute nicht mehr das leisten können, wozu sie eigentlich fähig wären, und noch 30 bis 40 Jahre leben, ohne ihre beruflichen Kapazitäten weiter auszuschöpfen. Betriebswirtschaftlich ist das kompletter Unsinn.

Sie fordern eine Neuausrichtung der Bildungssysteme, um die Fachkräftelücke zu schliessen. Die Bildung soll nicht mehr nur bis 30 funktionieren, sondern ein Leben lang. Sollen wir denn mit 50 nochmals eine Ausbildung machen und den Jungen den Platz im Hörsaal streitig machen?
Da weniger Junge nachkommen, wird es auch an den Unis wieder mehr Platz haben. Es wird keinen Konkurrenzkampf geben zwischen Alt und Jung. Es braucht Altersuniversitäten, aber nicht im Stil der Volkshochschulen mit Stoff, der «nice to know» ist, sondern solche, die ein Hochleistungsangebot für ältere Erwachsene haben. Es braucht altersgerechte Spitzenlehre mit Einbezug der vielfältigen Kenntnisse älterer Leute. Das würde zu neuen Jobs für Ältere führen. Einmal abgesehen von vereinzelten Executive Master für eine winzige Gruppe von Spitzenführungskräften gibt es hier noch gar nichts. Mir schwebt eine ganz normale Uni für 35- bis 65-Jährige vor. Hier sehe ich enormes Potenzial.

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«Wir müssen ein Leben lang aktiv sein und nicht bis ins Alter warten, um Lebensträume und -ziele zu verwirklichen.»

Für einen selbstbestimmten, angenehmen Lebensabend braucht es ein finanzielles Polster. Paradox ist, dass viele dem Staat nicht trauen, gleichzeitig aber wenig für ihre private Altersvorsorge tun. Mitte April hat sich Arbeitsministerin Nahles über die Riesterrente enttäuscht gezeigt. In der Schweiz wird die 3. Säule laut neusten Studien wenig genutzt – entweder aus Desinteresse oder weil das Geld dafür fehlt. Sehen Sie einen Ausweg?
Private Vorsorge im Sinne von Kapital ansparen schadet sicher nicht, reicht aber kaum aus. Statt das Geld in einen privaten Vorsorgefonds einzuzahlen, würde ich es wie ein Unternehmer in Weiterbildung investieren, und zwar schon ab etwa 30. Das ist die beste Vorsorgeinvestition. So habe ich eine grössere Chance, bis ins hohe Alter durch Einkommen meinen Lebensunterhalt zu finanzieren und nicht durch Erträge von angespartem Kapital. Mein Einkommen nimmt mir niemand weg. Das grösste Vermögen, das die meisten von uns haben, ist die Arbeitskraft. Gemessen am verfügbaren Lebenseinkommen stammt der überragende Teil aus Arbeitseinkommen, nicht aus Kapitaleinkommen. Die Arbeitskraft ist die wirkungsmächtigste Absicherung gegen Armut. Darum muss die Arbeitsphase möglichst lange andauern.

Sie sind Vater von drei Kindern und haben in Ihrem Beruf viel Kontakt zu jungen Leuten. Was halten eigentlich die vom Thema Altwerden?
Die Jungen sind heute nicht anders als früher. Das Alter ist so weit weg, dass sie es nicht als entscheidendes Gegenwartsthema verstehen. Ich erlebe täglich, wie die junge Generation über ihre Lebenspläne total anders denkt als die mittlere und ältere Generation. Ich glaube nicht, dass die demografischen Veränderungen, über die wir hier sprechen, die Jungen erschrecken. Lebenslange Weiterbildung ist völlig normal, schon im Bachelorstudium machen sie ein Auslandsemester, ein Master im Ausland ist gängig. Phasen ohne Festanstellung sind nicht atypisch, sondern zunehmend akzeptiert. Die Jungen haben andere Lebensziele, die Lebensplanung ist flexibler und weniger fix vorbestimmt.

Also sorgen Sie sich nicht um die heutige Jugend?
Ich würde es so formulieren: Über gewisse Themen mache ich mir wohl Sorgen, merke aber immer wieder, dass die Jungen andere Wertvorstellungen darüber haben, was das Leben bringen soll. Veränderungen sind Veränderungen – kein Untergang. Darum sage ich ja: Der Untergang ist abgesagt.

Interview: Ruth Hafen, Bilder: Claudia Höhne/Körber-Stiftung

Hamburgisches WeltWirtschafts Institut (HWWI), www.hwwi.org
Prof. Dr. Thomas Straubhaar

Thomas Straubhaar

Ökonom

Der Schweizer Thomas Straubhaar (geboren 1957) ist Professor für Volkswirtschaftslehre der Universität Hamburg und Direktor des Europa-Kollegs Hamburg. Von 1999 bis 2014 war er Direktor des Hamburgischen Weltwirtschaftsinstituts. Straubhaar ist verheiratet und hat drei Kinder.

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Buchtipp

In seinem neuen Buch «Der Untergang ist abgesagt – Wider die Mythen des demografischen Wandels» thematisiert der Ökonom Thomas Straubhaar den demografischen Wandel am Beispiel Deutschlands und beleuchtet zehn Mythen, die sich darum ranken.

Das Buch erschien im März 2016 in der Edition Körber-Stiftung.

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