Wir werden immer älter, wissen aber erstaunlich wenig über das Alter. Der Neurologe Albert Wettstein hat sich zum Ziel gesetzt, Altersmythen zu entkräften. Zehn populäre Irrtümer.

Mythos9rot

Mythos 1 - Materielle Sicherheit macht ältere Menschen glücklich.

Materielle Sicherheit macht ältere Menschen nur in Entwicklungsländern glücklich, nicht aber in Industrieländern. Hier ist glücklich, wer Selbstvertrauen, Optimismus und Offenheit zeigt und sozial unterstützt wird. Hohe soziale Unterstützung sagt gute Gesundheit und hinausgeschobene Sterblichkeit voraus und kann Depressionen und Stress vermindern.

Mythos 2 - Im Alter wird man immer einsamer.

Laut der «Gesundheitsstatistik 2014» fühlten sich 36% der Bevölkerung manchmal oder häufig einsam. Frauen empfanden in allen Altersgruppen häufiger Einsamkeitsgefühle als Männer (42% gegenüber 30%). Mit zunehmendem Alter nimmt das Gefühl des Alleinseins aber ab. Von den 65- bis 74-Jährigen fühlen sich nur noch 28% einsam. Erst mit 75 Jahren steigt das Einsamkeitsgefühl wieder auf 35% an.

3_Geschmacksinn

Mythos 3 - Je höher das Alter, desto schlechter der Geschmackssinn.

Die individuelle Sensibilität für Geschmacksreize nimmt zwar im Verlauf des Lebens allmählich etwas ab, aber nicht so signifikant, wie der Mythos es vermuten lässt. Viel grösser sind die Unterschiede zwischen den Individuen: Eine Studie zeigte, dass 25% der Bevölkerung so genannte Super-Taster sind, die alles erschmecken. 25% sind Low-Tasterund 50% Medium-Taster.

4_Pflegebedürftig

Mythos 4 - Wir leben immer länger – sind aber auch länger pflegebedürftig.

Im Gegenteil: Von 1982 bis 1999 stieg in der Schweiz die Lebenserwartung der 65-Jährigen um zwei Jahre, während die Dauer der Pflegebedürftigkeit in dieser Zeitspanne um eineinhalb Jahre sank. Dieser Trend hält seither weiter an.

5_Arbeitsleistung

Mythos 5 - Ab 50 Jahren nimmt die Arbeitsleistung in den meisten Berufen ab.

Stimmt nicht. Insgesamt nimmt die Arbeitsleistung mit dem Alter sogar leicht zu, wenn auch nicht signifikant. Dies gilt auch für die über 59-Jährigen.

Mythos 6 - Die Ehe lässt einen frühzeitig altern.

Das Gegenteil ist der Fall: Gemäss einer tschechischen Studie können sich verheiratete Männer auf neun, Frauen immerhin auf bis zu sieben Jahre zusätzliche Lebensjahre freuen. Warum? Einerseits finden gesündere Menschen wohl einfacher einen Partner und müssen weniger Hindernisse überwinden. Andererseits gibt es eine Art «Schutz durch die Ehe», da die stetige Auseinandersetzung mit dem Partner eine Reihe von Absicherungen und Unterstützungen bietet, finanziell, emotional oder durch Ermahnung bei gesundheitsschädlichem Verhalten wie bspw. zu hohem Alkoholkonsum oder riskantem Autofahren.

7_Industrienationen

Mythos 7 - Die Alterung der Gesellschaft ist ein Phänomen der Industrienationen.

Tatsächlich leben 59% der 490 Millionen Betagten (über 60-Jährigen) in Entwicklungsländern. Zudem leben 65-Jährige im reichsten Land (Norwegen) nur vier Jahre länger als im ärmsten Land der Welt (Malawi). 

1_Ehe und Enkel

Mythos 8 - Ehe und Enkel machen glücklich.

Wenn auch die Lebensdauer durch die Ehe um Jahre verlängert wird, vermindert Verheiratetsein auf der anderen Seite den subjektiven Lebenswert, vor allem im hohen Alter. Und: Je mehr Enkel ältere Menschen haben, desto niedriger schätzen sie den Wert ihres eigenen Lebens ein. 

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Mythos 9 - Kommt man ins Pflegeheim, stirbt man schneller.

Pflegeheimpatienten haben zwar eine erhöhte Sterblichkeit, die ist aber durch Faktoren bedingt, die nichts mit dem Heim an sich zu tun haben: Entscheidend sind die hohe Pflegebedürftigkeit, der direkte Übertritt aus dem Akutspital und – am wenigsten wichtig – ein besonders hohes Alter. Studien zeigen, dass die Mortalität im Pflegeheim nicht höher ist als ausserhalb.

10_Lebensqualität

Mythos 10 - Für Betagte ist nur hohe Lebensqualität, nicht aber lange Lebensdauer wichtig.

Angehörige und älter werdende Menschen betonen zwar immer wieder, dass die Lebensqualität wichtiger ist als die Lebensdauer. Von 414 hospitalisierten 80- bis 98-Jährigen in den USA waren aber nur 31% bereit, mehr als einen Monat ihres jetzigen Lebens gegen ein Leben in hervorragender Gesundheit einzutauschen. Und nur 6% würden lieber zwei Wochen in hervorragender Gesundheit als in ihrem gegenwärtigen Zustand weiterleben wollen. Wir Menschen scheinen aufs Überleben programmiert zu sein.

Albert Wettstein

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Neurologe und Gerontologe

Albert Wettstein (71) ist Privatdozent für geriatrische Neurologie an der Universität Zürich, Gründungs- und Leitungsmitglied des Zentrums für Gerontologie der Universität Zürich und emeritierter Chefarzt des Stadtärztlichen Dienstes Zürich. Mit seiner Sammlung «Mythen und Fakten zum Alter» begann er 2005 und seither erweitert er diese kontinuierlich. Dabei bezieht er alle Bereiche ein, die zur Gerontologie gehören, von der Soziologie über die Medizin, Pflege, Psychologie, Pharmakologie, Gesundheitsökonomie bis zu Ethik und Thanatologie.

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