Die Britin Deborah Levy gehört zu den renommiertesten zeitgenössischen Schriftstellerinnen. Im Gespräch plädiert sie dafür, neue Dinge im Leben selbstbestimmt auszuprobieren und mutig genug zu sein, auch einmal etwas zu vermasseln. Und sie verrät, warum sie nach jahrelang antrainiertem Lautsein nun wieder leiser spricht.

Frau Levy, Sie sind erst 62, aber haben eben mit «Ein eigenes Haus» den letzten Band Ihrer dreiteiligen Autobiografie veröffentlicht. Normalerweise schreibt man seine Autobiografie rückblickend – am Ende des Lebens.
Ich nenne das «Living Autobiography», lebende Autobiografie. Ich schreibe aus der Gegenwart des Lebens heraus und wollte bewusst kein ganzes Leben beschreiben, sondern nur einige ausgewählte Teile. Ich konzentriere mich auf die Phase zwischen vierzig und sechzig – denn diese Jahre sind im Hinblick auf weibliche Erfahrungen sonst kaum in Büchern dokumentiert. Ich dachte, es wäre spannend, zu zeigen, worum es mir in dieser Zeit ging und was diese Lebensphase generell auszeichnet. Aber ich hatte keine Ahnung, ob das irgendjemand lesen wollen würde. Ich fragte mich: Werden diese Alltagsgedanken einer Frau irgendwen interessieren? Und vor allem auch: Kann so etwas Literatur sein? Ich wollte ja keine Ratgeber für Frauen schreiben.

Das zentrale Thema der drei Bücher ist Ihre Suche nach Selbstbestimmung. In «Was das Leben kostet» zitieren Sie Oscar Wilde: «Sei du selbst; alle anderen sind bereits vergeben.»
Ich finde das ein schönes, ermutigendes Zitat. Aber es ist leichter gesagt als getan. Seine eigene Stimme zu finden, sich selbst zu behaupten und seinen Weg selbst zu bestimmen, ist unglaublich befreiend – aber auch langwierig und teilweise schmerzhaft.

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Ich habe ein Ticket in Richtung Freiheit gebucht, aber ich weiss weder, wo diese liegt, noch ob ich jemals dort ankomme.

Wann fing dieser Prozess der Stimmfindung bei Ihnen an?
Bereits als Kind. Ich sprach wenig, deshalb legte mir eine Lehrerin nahe, ich solle meine Gedanken aufschreiben. Dadurch stellte ich fest, dass es mir gefällt, Geschichten zu erfinden und durch andere Figuren zu sprechen. Um dann aber wirklich Schriftstellerin zu werden, musste ich lernen, laut zu sprechen und dann noch ein bisschen lauter – nur um dann irgendwann festzustellen, dass meine Stimme eigentlich eher leise ist.

Wieso mussten Sie denn unbedingt laut sprechen?
Weil man uns Frauen bisher immer suggeriert hat, dass wir super stark, super unverletzlich, super sicher, super zielgerichtet und eben super laut und bestimmend sein müssen, wenn wir wollen, dass man uns zuhört. Ich glaube mittlerweile, dass das vollkommener Blödsinn ist. Wir können laut und leise, sicher und zögerlich, stark und verletzlich zugleich sein und andere damit auf eine viel humanere Weise ansprechen. Seine eigene Stimme zu finden ist so gesehen etwas Fantastisches, etwas wirklich Erhebendes, weil man plötzlich in der Welt existiert und sie selbst mitbestimmt.

Geht es Ihnen um ein neues, selbstbestimmteres Bild der Weiblichkeit?
Ja, ich versuche, von der altmodischen Frauenfigur wegzukommen, wie sie von Männern für Frauen geschrieben wurde und bei der es nur um Leiden, Ausdauer und Opfer geht. Warum finden wir nicht andere Talente und lösen uns von der Langeweile, immer auf diese Weise definiert oder festgelegt werden zu müssen?

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Selbstbestimmt leben heisst auch, Risiken einzugehen, sowohl in finanzieller als auch in anderer Hinsicht. Aber es ist den Preis wert.

Mit 50 erfasste Sie der «Sturm des Lebens». Sie trennten sich nach 23 Ehejahren von Ihrem Mann, verkauften das gemeinsame Haus und zogen mit Ihrer jüngeren Tochter in einen riesigen Wohnblock in Nordlondon ohne funktionierende Heizung. «Freiheit ist nie umsonst», schreiben Sie. „Wer je um Freiheit gerungen hat, weiss, was sie kostet.»
Tatsächlich heisst selbstbestimmt leben auch, Risiken einzugehen, sowohl in finanzieller als auch in anderer Hinsicht. Aber es ist den Preis wert. Dieser Neubeginn mit 50 war eine Zeit des Wandels und der Turbulenzen, energiegeladen und aufregend. Eine Zeit der Selbstachtung und vielleicht eine Art Heimkehr.

Ihre Bücher sind auch ein Appell an unseren Mut. Daran, nicht aus Angst oder Bequemlichkeit im Bestehenden zu verharren. Wie wird man mutiger?
Ein Weg mutiger zu werden, ist weniger Angst vor dem Versagen zu haben. Ich finde, dass heute gerade auf jungen Menschen ein immenser Erfolgsdruck lastet, dass sie sehr zielorientiert und erfolgreich sein müssen. Wir sollten ihnen mehr Raum geben, alles auszuprobieren und mutig genug zu sein, Dinge auch einmal vermasseln zu können.

In «Ein eigenes Haus» geht es, wie der Titel schon suggeriert, auch viel um die Frage des Daheims, des Zuhauses. Was bedeutet das für Sie?
Für mich ist ein Zuhause eine Art Utopie. Man gestaltet eine Welt, wie sie einem gefällt, wie man sie sich erträumt. Man formt sie aus. Und dann lädt man Menschen dazu ein, einen in dieser Welt zu besuchen, mit einem an einem Tisch zu essen, Speis und Trank und Gedanken zu teilen.

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Seinen Weg selbst zu bestimmen, ist unglaublich befreiend – aber auch langwierig und schmerzhaft.

Diese Sehnsucht nach einem Zuhause kommt in fast all ihren Büchern vor. Liegt dies daran, dass Sie als Kind Ihre Heimat Südafrika verlassen und in England ein neues Daheim aufbauen mussten, weil Ihre Eltern in der Anti-Apartheid-Bewegung aktiv waren?
Mit Sicherheit, das hat mich geprägt. Ich habe den Ursprung dieser Sehnsucht im ersten Buch der Trilogie erklärt und in «Ein eigenes Haus» wird diese Suche nach einem Heim beendet. Nicht weil ich mein Traumhaus endlich gefunden habe – auch wenn ein physisches Daheim sehr wichtig ist – sondern weil ich feststellte, dass ich mir mein Zuhause bereits über die Jahre hinweg selbst gebaut und ausgestaltet habe: Es sind meine Bücher.

Mit 60 hat für Sie ein neuer Lebensabschnitt begonnen. Auch Ihre ältere Tochter ist ausgeflogen und hat mit dem Studium begonnen. Sie sind endgültig von häuslichen Verpflichtungen befreit. Würden Sie sagen, dass Sie heute ein gänzlich selbstbestimmtes, freies Leben führen?
Wissen Sie, ich glaube, die Freiheit ist «work in progress». Ich beschreibe das in meinem neuen Buch so: Ich habe gemeinsam mit Frauen wie Simone de Beauvoir ein Ticket in Richtung Freiheit gebucht, aber ich weiss weder, wo diese liegt, noch ob ich jemals dort ankomme. Es geht um die Bewegung, darum sich auf sein hohes Ross zu schwingen und loszugaloppieren, nach etwas zu streben. Im Grunde möchte ich sagen: Diese Welt ist auch deine, hol sie dir!

Glauben Sie, dass es neue Frauenrollen für Ihre Töchter geben wird? Dass sie leichter die Hauptfiguren des eigenen Lebens sein können?
Auf jeden Fall! Ich liebe und bewundere die neue Generation von jungen Frauen. Ich glaube, sie können die Welt verändern.

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Deborah Levy

Deborah Levy (62) gehört zu den erfolgreichsten Theaterautorinnen und Schriftstellerinnen ihrer Generation. In Grossbritannien, wo die in Johannesburg geborene Tochter eines Anti-Apartheid-Aktivisten seit Ende der 1960er-Jahre lebt, waren ihre drei jüngsten Romane für den Booker Prize nominiert. Internationales Aufsehen hat Levy mit ihrer dreiteiligen Autobiografie erregt, in der sie die Geschichte ihrer Selbstfindung zur Erkundung der Herausforderungen eines selbstbestimmten Lebens und den Preis, den Frauen im 21. Jahrhundert weiterhin für ihre Unabhängigkeit zahlen, ausweitet. Für den zweiten Teil der Autobiografie «Was das Leben kostet» wurde sie in Frankreich mit dem renommierten Literaturpreis Prix «Fémina» 2020 ausgezeichnet. Der dritte und letzte Teil ihrer Autobiografie «Ein eigenes Haus» erschien 2021 im Verlag Hoffmann und Campe.

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