Was ist eine altersfreundliche Stadt? Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat sich intensiv mit diesem Thema befasst, einen Leitfaden dazu veröffentlicht und ein globales Netzwerk aufgezogen.
Der globale Leitfaden zur altersfreundlichen Stadt konzentriert sich auf acht Bereiche: öffentlicher und bebauter Raum, Verkehr, Wohnen, soziale Beteiligung, Respekt und soziale Integration, zivilgesellschaftliche Beteiligung und Beschäftigung, Kommunikation und Information sowie öffentliche und Gesundheitsdienstleistungen. Haben verschiedene Länder unterschiedliche Prioritäten?
Interessant bei der Arbeit zu altersfreundlichen Städten ist, dass diese acht Bereiche trotz unterschiedlicher Voraussetzungen überall Priorität haben. Städte und Gemeinden könnten jedoch noch mehr tun, um die Grundbedürfnisse der älteren Bevölkerung abzudecken, was die finanzielle und allgemeine Sicherheit betrifft. Der Schwerpunkt der Programme kann von Stadt zu Stadt variieren. Im indischen Kalkutta etwa, wo es eine grosse Einkommenskluft gibt, liegt der Schwerpunkt auf dem Gesundheitswesen, während in Oslo mehr Wert auf neue Wohnformen für die ältere Bevölkerung und die Innovation in der Pflege gelegt wird.
Global Age-friendly Cities: A Guide
Im Jahr 2007 publizierte die WHO einen globalen Leitfaden zur altersfreundlichen Stadt mit dem Ziel, Städte zu mehr Altersfreundlichkeit zu ermuntern, um das Potenzial auszuschöpfen, das ältere Menschen der Menschheit bieten. Der Leitfaden beschreibt die konvergierenden Trends des schnellen Wachstums im Segment der über 60-Jährigen und der Verstädterung, zeigt die Herausforderungen für die Städte und fasst den Forschungsprozess zusammen, mit dem die Kerneigenschaften einer altersfreundlichen Stadt identifiziert wurden.
Haben Frauen und Männer unterschiedliche Bedürfnisse oder Erwartungen an altersfreundliche Städte? Einige Programme bieten so genannte «Men's Sheds» an...
Ja, diese Männerschuppen sind grossartige Initiativen in Australien, Irland und anderen Ländern. Dort können Männer zusammenkommen und mehr über das Altern, Ernährung und körperliche Tätigkeiten erfahren und auch mit Holz arbeiten. In Afrika haben wir in einer Studie herausgefunden, dass sich die Auswirkungen des Älterwerdens zwischen Mann und Frau unterscheiden können.
Im World Report on Ageing and Health von 2015 steht, es gebe trotz der verbreiteten Annahme, dass eine steigende Lebenserwartung mit einer längeren gesunden Lebensphase einhergehe, nur wenige Hinweise darauf, dass ältere Menschen heute gesünder seien als ihre Eltern im gleichen Alter. Siebzig ist also doch nicht das neue Sechzig?
Interessanterweise denkt man heute, die Menschen würden nun länger leben und gesünder bleiben. Der World Report on Ageing and Health untersuchte in erster Linie die USA und Europa – Regionen, wo Längsschnittdaten verfügbar sind. Es zeigte sich, dass ältere Menschen heute nicht unbedingt gesünder sind als ihre Eltern und Grosseltern. Die Studie untersuchte, ob die Menschen ihren Alltag meistern können. Natürlich gibt es grosse Unterschiede: Menschen mit hohem sozioökonomischen Status haben ein gutes Einkommen und sind allgemein viel gesünder. Menschen mit tieferem sozioökonomischen Status weisen oft höhere Invaliditätsraten auf und haben weniger Ressourcen, um ihre Bedürfnisse abzudecken.
Sollten sich Städte stärker Gesundheitsfragen widmen?
Die Gesundheit spielt dabei, wie das Älterwerden erlebt wird, eine zentrale Rolle. Wenn wir unsere Gesundheit im Verlauf des Lebens bis ins Alter hinein verbessern, sind die Möglichkeiten der älteren Bevölkerung grenzenlos. Ein weiterer Punkt ist die Altersdiskriminierung, also die negativen Wahrnehmungen, die wir von älteren Menschen haben: dass sie eine Belastung sind, sich mehr nehmen, als ihnen zusteht, und alle unsere Ressourcen aufbrauchen. Die meisten dieser negativen Ansichten sind falsch und werden durch keine Beweise gestützt. Forschungen in Grossbritannien haben gezeigt, dass ältere Menschen tatsächlich enorm zur Gesellschaft beitragen und mehr leisten, als sie kosten, wenn man die Gesundheits- und Pflegekosten gegen die Beiträge bei der Kaufkraft und den Steuern sowie andere direkte finanzielle Beiträge wie die Freiwilligenarbeit aufwiegt.
Altersdiskriminierung in der Gesellschaft ist also auch ein Hindernis für altersfreundliche Städte?
Absolut. Die Bekämpfung von Altersdiskriminierung ist bei der Altersarbeit eine Voraussetzung. Die WHO arbeitet zurzeit an einer globalen Kampagne zur Bekämpfung von Altersdiskriminierung. Neben Sexismus und Rassismus ist Altersdiskriminierung eine weit verbreitete Form der Diskriminierung.
Viele altersfreundliche Massnahmen der Städte kommen auch Menschen mit Behinderung, schwangeren Frauen oder Familien mit kleinen Kindern zugute. Der altersfreundliche Ansatz scheint Menschen allen Alters zu dienen.
Der altersfreundliche Ansatz deckt sämtliche Altersgruppen ab. Rampen, Niederflurbusse, behindertengerechte Sitzplätze im öffentlichen Verkehr und freundliche Mitarbeitende im öffentlichen Dienst – im Wohnungsbau oder im öffentlichen Verkehr – kommen ganz klar allen zugute.
Ich welcher Stadt möchten Sie alt werden?
Die meisten Städte haben Grossartiges zu bieten. Ich denke, es gibt aber in allen Städten und Gemeinden unseres Netzwerks Verbesserungspotenzial. Aber genau das ist der Zweck des Netzwerks: Der Weg hin zu einer altersfreundlicheren Stadt ist lang. Ich habe meine Stadt, in der ich alt werden möchte, noch nicht gefunden. Wo möchten Sie denn alt werden?
Da haben Sie mich jetzt erwischt! Vielleicht in Zürich, aber ich weiss nicht, ob ich mir das leisten kann.
Ja, das ist tatsächlich ein grosses Problem. Wir wissen, dass Frauen länger leben als Männer, weshalb die Wahrscheinlichkeit, dass sie alleine leben, höher ist. Künftige Generationen von Frauen werden in ihrem Leben wohl mehr Zeit mit der Pflege von Kindern oder Eltern verbringen, und sie werden tendenziell ärmer sein. Länder, Städte und Gemeinden müssen dieses Problem angehen. Das heisst, die Menschen, insbesondere die Frauen, müssen ermutigt werden, in jungen Jahren mehr zu sparen, und verarmte ältere Menschen müssen unterstützt werden. Und natürlich müssen auch geeignete Gesundheitsdienstleistungen angeboten werden. Ältere Menschen sollten nicht wie arme, kranke Mitbürger behandelt werden, und auch ihre Krankheiten sollten nicht anders behandelt werden.
Vielleicht möchte ich in einer Stadt ohne Altersdiskriminierung alt werden...
Ja, das möchte ich auch! Altersdiskriminierung ist ein Problem, das wir alle gemeinsam angehen müssen, denn es beschränkt unser Denken. Die Herausforderungen bei der Altersdiskriminierung sind die negativen Einstellungen gegenüber älteren Menschen, denen wir im jungen Alter ausgesetzt sind. Unser Leben lang prägen uns diese Ansichten und wenn wir älter sind, glauben wir sie selbst. Oft sagen wir: «Das tue ich nicht, weil ich alt bin.» Eine umfangreiche US-Studie hat gezeigt, dass Menschen mit einer negativen Einstellung gegenüber dem Älterwerden durchschnittlich 7,5 Jahre weniger lang leben als jene mit einer positiven Einstellung. Wenn wir Altersdiskriminierung ausmerzen könnten, würden die Menschen auch anders über Gesundheitsdienstleistungen denken. Man würde nicht nur von Kostendämpfung sprechen, sondern auch davon, wie in die Erhaltung einer gesunden Bevölkerung investiert werden kann. Dadurch würden wir anders zur Beschäftigung stehen und zur Art und Weise, wie wir in unsere Infrastruktur investieren. Ich würde definitiv in einer Stadt ohne Altersdiskriminierung leben wollen. Aber ich glaube, die gibt es noch gar nicht.
Interview: Ruth Hafen / Bilder: WHO
Links zum Artikel (in Englisch)
Alana Officer
Senior Health Adviser beim Department of Ageing and Life Course der Weltgesundheitsorganisation
Ihre akademische Laufbahn umfasst die podologische Medizin, angewandte Wissenschaften (Trainings- und Sportwissenschaft) und das Gesundheitswesen. Vor ihrem Eintritt bei der WHO im Juli 2006 war sie in mehreren klinischen, technischen und Führungspositionen in den Bereichen Gesundheit, Behinderung, Rehabilitierung und Entwicklung in West- und Zentralafrika, Europa, Südasien, im Nahen Osten und im Westpazifik tätig. Von 2007 bis 2014 war sie Koordinatorin für Behinderung und Rehabilitation. Im Juli 2014 stiess sie zum Department of Ageing and Life Course und übernahm dort die Erstellung des World Report on Ageing and Health, der im Oktober 2015 publiziert wurde. Derzeit leitet sie den Bereich für altersfreundliche Umgebungen der WHO einschliesslich des Global Network on Age-friendly Cities and Communities und der Global Campaign to Combat Ageism.
WHO
Global Network of Age-friendly Cities and Communities
2010 gegründet. Ziel: Städte, Gemeinden und Organisationen weltweit mit der gemeinsamen Vision zu verbinden, aus ihren Gemeinschaften Orte zu machen, in denen es sich gut alt werden lässt. Als Antwort auf die immer älter werdende Weltbevölkerung fokussiert das Netzwerk auf lokale Massnahmen, die die älteren Menschen zur vollen Mitwirkung am Gemeinschaftsleben animieren und ein gesundes und aktives Älterwerden fördern. Das Netzwerk bietet eine globale Plattform zum Informationsaustausch sowie zur gegenseitigen Wissensvermittlung und Unterstützung. Eine Mitgliedschaft heisst jedoch nicht, dass Altersfreundlichkeit automatisch vorhanden ist. Das Netzwerk umfasst derzeit 302 Städte und Gemeinden in 33 Ländern mit rund 120 Millionen Menschen weltweit. https://extranet.who.int/agefriendlyworld/who-network/