Monika Bütler gilt als eine der einflussreichsten Ökonominnen der Schweiz. Die Swiss Life-Verwaltungsrätin erklärt im Gespräch, warum Wahrscheinlichkeitsrechnung die Grundlage für viele Entscheidungen ist, wie Faustregeln uns das Leben einfacher machen und was ihre bisher beste Finanzentscheidung war.

Frau Bütler, Sie forschen u.a. zum System von wirtschaftlichen Anreizen, dem so genannten «Nudging». Ist der Mensch ein manipulierbares Wesen?
Für mich ist Nudging nicht mit Anreizen gleichzusetzen. Anreize gibt es überall, aber viele von ihnen wurden nicht mit einer bestimmten Absicht gesetzt. Wenn ich zum Beispiel mehr arbeite, muss ich einen höheren Teil des Mehrverdienstes als Steuern zahlen – aber niemand wollte mit dem Steuersystem einen entsprechenden Anreiz schaffen. Nudging bedeutet, dass Menschen mit Absicht bei einer Wahl zwischen verschiedenen Alternativen zur «richtigen» Entscheidung gebracht werden sollen. Das hat schon etwas Manipulatives, allerdings nicht unbedingt im negativen Sinn.

Haben Sie ein Beispiel?
Ja, ein typisches Beispiel ist die Reform bei der Organspende: Wenn die Zustimmung zur Organspende als Standard angenommen wird und es einen expliziten Widerspruch anstelle einer expliziten Zustimmung benötigt, so erhöht sich die Anzahl der Organspenderinnen und Organspender sofort von etwa 10% auf rund 90% – obwohl es im Kern immer noch die gleiche Entscheidung ist.

Wann geht Nudging zu weit?
Nudging hat einen grossen Nachteil: Wer zu viel genudgt wird im Leben, hört auf zu denken. Der Mensch hat dann wenig Anreiz, über seine Entscheidungen nachzudenken, weil er bei jeder Gelegenheit wieder in eine bestimmte Richtung geschubst wird. Das finde ich schon heikel.

Aus diesem Grund ist Transparenz wichtig. Die Menschen sollten immer wissen, dass man sie mit Nudging in eine bestimmte Richtung bewegen will – denn es ist ja nichts Negatives. Sparen fürs Alter zum Beispiel kommt uns allen zugute.

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Wer zu viel genudgt wird im Leben, hört auf zu denken.

Inwiefern werden wir denn beim Sparen fürs Alter genudgt?
Ein gutes Beispiel dafür ist das Setzen von sogenannten «Defaults», also Standardoptionen, in der beruflichen Vorsorge. Wird eine Person pensioniert, muss sie sich zwischen Kapital und Rente entscheiden. Bei den meisten Pensionskassen ist die Rente die Standardoption. Wer sich also nicht bewusst anders entscheidet, erhält eine lebenslange Rente. Unsere Studien zeigen, dass der Anteil jener, die den Kapitalbezug wählen, steigt, je klarer und direkter die Informationen über die verschiedenen Optionen sind und je stärker sich die Menschen aktiv entscheiden müssen.

Gibt es noch andere Möglichkeiten, den Menschen gute Entscheidungen zu erleichtern?
Standardoptionen helfen uns dabei, bessere Entscheidungen zu treffen, ohne viel Information zu benötigen. Das gleiche Ziel können Faustregeln erreichen. Harry Markowitz, ein US-amerikanischer Nobelpreisträger in Ökonomie und ein Vorreiter der modernen Portfoliotheorie, hat dies einmal wunderbar erklärt. Er sagte über sein eigenes Portfolio, dass er das optimale Verhältnis zwischen Risiko und Rendite zwar ganz genau berechnen könnte, am Ende aber trotzdem einen 50:50 Split zwischen Aktien und Obligationen wähle. Wenn das optimale Verhältnis bei 45:55 läge, macht man mit 50:50 keinen grossen Fehler. Viel wichtiger ist die Diversifikation des Risikos, indem die Investitionen auf verschiedene Vermögenswerte verteilt werden.

Sind wir Menschen zu bequem, um selbstbestimmt Entscheidungen zu fällen?
Informationsbeschaffung kostet Zeit und Geld. Es ist bis zu einem gewissen Grad eine einfache Kosten-Nutzen-Rechnung: Wenn zusätzliche Information meine Entscheidung nur marginal verbessert, dann lasse ich es sein. Und eine gewisse Trägheit haben wir Menschen vermutlich schon in uns drin.

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Es ist eine einfache Kosten-Nutzen-Rechnung: Wenn zusätzliche Information meine Entscheidung nur marginal verbessert, dann lasse ich es sein.

Bleiben wir beim Thema Geld. Welche Bedeutung hat Geld für Sie?
Ich wollte schon in der Mittelschule finanziell selbstbestimmt sein und mein eigenes Geld verdienen. Es war mir immer sehr wichtig, von niemandem abhängig zu sein. Da bin ich fast ein wenig besessen – oder wie mein Mann manchmal sagt: «Du spinnst» (lacht). Aber ich möchte weder vom Staat noch von den Eltern, meinem Mann oder später meinen Kindern abhängig sein.

Lange Zeit bin ich mit wenig Geld ausgekommen. Mit 30 ging ich noch einmal an die Uni, und als ich dann die erste ordentliche Professur hatte, floss mein Salär direkt in die Kinderbetreuung. So viel Geld, dass ich mir nicht mehr überlegen muss, ob ich ein richtig gutes Ticket für ein klassisches Konzert in der Tonhalle (Konzerthalle in Zürich, Anm. d. Red.) kaufen will, habe ich erst seit etwa zehn Jahren.

Was war Ihre bisher beste Finanzentscheidung?
Ein Reihenhaus in Zürich zu kaufen. Mein Mann und ich sind damals an unsere finanziellen Grenzen gekommen, hatten zwei noch relativ kleine Kinder im Primarschulalter. Aber jetzt ist es grandios, ein Haus an zentraler und trotzdem ruhiger Lage in Zürich zu haben.

Sie fordern schon lange mehr Finanzausbildung an Schulen. Welche Grundlagen zum Thema Finanzen müssten wir alle kennen?
Wichtig ist das Bewusstsein, dass Finanzentscheidungen langfristige Folgen haben können. Die Folgen von Zins und Zinseszins sollten alle kennen, die Auswirkungen von Inflation auf die reale Rendite ebenfalls. Und man sollte verstehen, warum Risiko-Diversifikation essenziell ist. Eigentlich braucht es gar nicht so viel.

Zumindest was die Schweiz betrifft, ist leider nichts davon Bestandteil des Lehrplans. An den Schulen wird kaum ökonomisches Wissen vermittelt und, was mich fast noch mehr erschreckt, praktisch nichts über einfachste statistische Zusammenhänge gelehrt. Als mein jüngerer Sohn zehn Jahre alt war, verbrachte ich mit ihm drei Monate in Neuseeland. Er besuchte dort die vierte Klasse, wo bereits einfaches Wahrscheinlichkeitsrechnen unterrichtet wurde. Die Kinder haben zum Beispiel gelernt, dass es besser ist auf mehrere Optionen zu setzen, weil es weniger wahrscheinlich ist, dass zwei Sachen gleichzeitig schief gehen. Das ist eine wichtige Grundlage, um Entscheidungen fällen zu können, nicht nur in Finanzfragen.

Sie sehen also primär die Schulen in der Pflicht, das Finanzwissen zu fördern?
Absolut. In der Schule kann früh genug die Basis gelegt werden. Finanzwissen ist ein meritorisches Gut und kommt allen zugute. Je früher damit begonnen wird, desto besser holt man ausserdem auch die Frauen bzw. Mädchen ab.

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Monika Bütler

Monika Bütler (1961) wohnt in Zürich und bezeichnet ihr Familienmodell als «0815»; sie ist verheiratet und Mutter von zwei Söhnen. Beim Arbeitspensum ist man sich familienintern nicht ganz einig: «Mein Mann würde sagen, ich arbeite immer noch 100%, meine Söhne würden sagen, dass ich immerhin nicht mehr 120% arbeite. Ich sage ungefähr 80%». Prof. Dr. Dr. h.c. Monika Bütler hat zunächst Mathematik studiert, ehe sie ein Zweitstudium der Volkswirtschaftslehre abschloss. Sie ist Honorarprofessorin an der Universität St. Gallen, wo sie bis 2021 als ordentliche Professorin für Volkswirtschaftslehre und Wirtschaftspolitik sowie Direktorin des von ihr mitgegründeten Schweizerischen Instituts für Empirische Wirtschaftsforschung (SEW) tätig war. Seit 2022 ist Monika Bütler Mitglied des Verwaltungsrats der Swiss Life-Gruppe. Jüngst wurde sie für ihre Forschung und deren Vermittlung mit dem Bonny-Freiheitspreis ausgezeichnet.

Nudging

Der Begriff Nudging (zu deutsch "Anstossen" oder "Schubsen") stammt aus der Verhaltensökonomie und beschreibt eine Strategie zur gezielten Verhaltensänderung. Ziel ist es, Menschen dazu zu bewegen, sich für eine erwünschte Verhaltensweise zu entscheiden, ohne dabei auf Druck oder Zwang zurückzugreifen.

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