Reinhold Messner ging sein Leben lang dorthin, wo Menschen nicht hingehören: auf Achttausender, in die Antarktis oder die Wüste. Woher stammt sein Drang nach Freiheit? Und wie geht man im Alter damit um?
In Ihren Büchern und Vorträgen schildern Sie nicht nur Ihre Abenteuer. Es sind jeweils auch flammende Plädoyers für die Freiheit des Menschen. Wieso ist Ihnen Selbstbestimmung so wichtig?
Weil es bei allem, was ich tue, genau darum geht. Egal, ob beim Bergsteigen, bei den Wüstendurchquerungen oder beim Aufbau meines Mountain Museum im Südtirol. Ich will Verantwortung übernehmen und unabhängig sein. Die Selbstbestimmung ist mir heilig.
Woher stammt dieser Drang?
Ich wuchs in der Nachkriegszeit in einer Welt auf, in der die Gängelung alltäglich war. In unserem Dorf gaben der Pfarrer und ein paar andere Moralisten vor, wie man zu leben hatte. Schon als Bub ertrug ich das schlecht und als Gymnasiast begann ich, mich aufzulehnen.
Was war der Auslöser?
Ich kletterte in den Ferien mit Freunden die anspruchsvolle «Bonatti-Route» in der Matterhorn-Nordwand. Aufgrund eines Wettersturzes brauchten wir dafür länger und ich fror mir dabei Zehen ab. Darum kam ich sechs Tage zu spät zur Schule. Als der Deutschlehrer wissen wollte, wo ich gewesen war, antwortete ich: «Das geht Sie nichts an. Ich war beim Direktor und habe mich entschuldigt.» Von da an quälte mich dieser Lehrer. Er prüfte mich zu Stoff, den wir nicht durchgenommen hatten, und stellte mich bloss. Statt mich zu entschuldigen, sagte ich: «Machen Sie nur weiter so, wenn es Ihnen Freude macht.» Schliesslich liess man mich aus Rache durchs Abitur fallen und ich musste ein Jahr später nochmals antreten.
Ist die Fähigkeit zur Selbstbestimmung angeboren oder eine Frage der Erziehung?
Ich glaube, sie steckt in jedem von uns, aber die meisten haben nicht den Mut, sie auszuleben. Der Mut ist uns abhandengekommen, weil wir in grossen Sicherheitsnetzen leben und viel Eigenverantwortung abgeben. Man muss den Menschen wieder klarer machen, dass sie einen freien Willen haben. Aber sie müssen auch die Chance bekommen, sich zur selbstbestimmten Persönlichkeit zu entwickeln. Dafür braucht man in der Kindheit Menschen, die einem das nötige Vertrauen schenken.
Wer hat Sie unterstützt?
Meine Mutter. Während uns der Vater zu braven Bürgern erziehen wollte, liess sie uns Freiraum. Schon als Schüler zog ich mit meinem jüngeren Bruder um drei Uhr morgens mit Seil und Haken los, um in eine Felswand vor unserer Haustür einzusteigen. Unsere Mutter zeigte nie ihre Angst und versuchte uns nicht davon abhalten. Stattdessen stand sie auf und machte uns in aller Herrgottsfrühe Frühstück. Im vollen Bewusstsein, dass wir vielleicht nie wieder heimkehren würden.
Ist Alpinismus die reinste Form von Selbstbestimmung?
Das ist jede Auseinandersetzung mit der Gefahrenzone Natur, der ungezähmten Welt ohne menschliche Infrastruktur. Wir gehen in eine archaische Welt ohne Gesetze. Dabei sind wir Anarchisten. Es gibt keine Regeln, wie ich Achttausender besteigen soll. Die entstehen erst im Laufe des Aufstiegs. Niemand kann dort aufgrund seiner Funktion oder Stellung Macht ausüben. Das Überleben entzieht sich jeder einfachen Moral von richtig oder falsch: In entscheidenden Situationen am Berg braucht man keinen Schiedsrichter von aussen.
Selbstbestimmung heisst, Entscheidungen zu treffen. Was war die schwierigste Entscheidung Ihres Lebens?
Der Moment vor dem Abstieg am Nanga Parbat im Jahre 1970. Die Route über die unbekannte Diamirflanke war eine lebensgefährliche Mission für meinen höhenkranken Bruder Günther. Aber zu warten, hätte spätestens in der zweiten Nacht unseren sicheren Tod bedeutet. In diesem Moment kommt der Selbsterhaltungstrieb ins Spiel. Statt nichts zu tun, versucht man das Verrückteste, das Unmöglichste und so wagten wir es.
Sie haben dabei Ihren Bruder verloren. Was hat Sie dieses Drama gelehrt?
Ohne diese Erfahrung wäre ich heute nicht der, der ich bin. Ich bin nicht durch Erfolge so geworden, sondern durch häufiges Scheitern. Dieses Ereignis bleibt für immer in meiner Verantwortung und Erinnerung. Das Zusammenspiel zwischen Mensch und Natur ist immer eine Geschichte, die hauptsächlich von der Natur diktiert wird. Der Mensch kann dabei nur reagieren – vielleicht richtig, vielleicht falsch. Wenn er sein Leben retten kann, hat er vielleicht Glück gehabt.
Verantwortung übernehmen bedeutet auch fürs Alter vorsorgen. Wann haben Sie damit begonnen?
Bis ich 40 war, habe ich null vorgesorgt. Ich war ein Halbnomade, der herumgezogen ist, ohne an die Zukunft zu denken. Erst dann – nach der Geburt des ersten Kindes – konnte ich mir etwas leisten und ich kaufte das zerfallene Schloss Juval. Mein Vater hielt es für einen völligen Irrsinn, aber es war die beste Investition meines Lebens.
Sie werden dieses Jahr 75. Lassen sich der Adrenalinkick und die Glücksmomente der physischen Grenzgänge im Alter ersetzen?
Was Geschicklichkeit und Ausdauer angeht, habe ich meine Ziele runtergeschraubt. Ich besteige höchstens noch einen Sechstausender oder mein Sohn nimmt mich mit auf eine mittelschwierige Tour. Dafür bin ich mehr kulturell tätig und auch wenn mir das kaum jemand glaubt: Ich fand es ähnlich befriedigend, ein Museum zu lancieren, wie mit 30 ohne Sauerstoffmaske auf den Everest zu steigen. Mir geht es darum, Ideen umzusetzen. Erst am Ende zurückzuschauen und zu sagen, ich habe ein gelungenes Leben hinter mir, wäre mir viel zu spät. Glücklich sind wir nur, wenn wir im Moment nicht mehr nach dem Glücklichsein fragen.
Glauben Sie an ein Leben nach dem Tod?
Nein. Ich bin der Ansicht, Religionen sind eine grossartige Lebenshilfe, aber alle menschengemacht. Ich selber stelle mir die Zeit nach dem Tod so vor: Wir lösen uns auf in ein Dasein der Zeitlosigkeit, Unendlichkeit, der totalen Stille und Leere.
Wie wichtig ist Ihnen heute Selbstbestimmung?
Immer noch zentral. Ich lebe als Selbstversorger auf unserem renovierten Schloss Juval. Ich habe eben mit meinem Sohn eine Filmproduktionsfirma aufgebaut, die involvierten TV-Anstalten versuchen mich zu bevormunden und ich bin dabei, zu überlegen, auf deren Geld zu verzichten und meine eigenen Filme zu machen. Selbstbestimmung wird dir nicht geschenkt. Man muss sich dafür wehren und konsequent handeln.
Reinhold Messner
Der Grenzgänger
Reinhold Messner (74) hat als erster Mensch die 14 höchsten Gipfel der Erde bestiegen – ohne die Zuhilfenahme von Sauerstoffflaschen. Zudem durchquerte er die Antarktis, Grönland und die Wüste Gobi. Von 1999 bis 2004 war Reinhold Messner für die Grünen im Europäischen Parlament aktiv. Er ist Autor von mehreren Dutzend Büchern und geht jedes Jahr auf Vortragstournee. 2006 eröffnete er das Messner Mountain Museum, ein Bergmuseum, das aus sechs verschiedenen Standorten besteht. Der Abenteurer ist zum zweiten Mal verheiratet, hat vier erwachsene Kinder und lebt im Südtirol.
Titelbild: KEYSTONE/APA/Ehm Ian