Für Bestsellerautor T. C. Boyle ist die menschliche Selbstbestimmung ein zentrales Thema seines Werks. Heute denkt er anders darüber als zu Beginn seiner Karriere. Ein Gespräch mit dem 70-jährigen Literatur-Rebellen.
Sie stammen aus einer Alkoholiker-Familie und waren Junkie. Heute sind Sie einer der berühmtesten Schriftsteller der Welt. War das kein selbstbestimmter Akt?
Mein Leben war geprägt von den Dringlichkeiten meiner Generation und Entscheidungen, die im Rückblick nicht so sehr den freien Willen, sondern die natürlichen Notwendigkeiten widerspiegeln. So wütete ich als Teenager, fand Sex und Liebe in meinen Zwanzigern, reproduzierte mich in meinen Dreissigern, kaufte und unterhielt ein Haus in meinen Vierzigern und jetzt, nachdem ich meine Feinde besiegt habe, sehe ich nur noch dem Tod entgegen. Wobei ich mich frage, ob andere Lebewesen ahnen, dass sie sterben müssen, oder ob sie glücklicherweise frei von diesem erdrückenden Wissen sind.
Eines der wiederkehrenden Themen in Ihrem Werk ist der freie Wille. Warum ist dieses Thema für Sie so wichtig?
Weil es die zentrale Frage der menschlichen Existenz ist. Wie alle denkenden Affen auf diesem mysteriösen und sinnlosen Planeten frage ich mich, ob es eine Abgrenzung zwischen den rein biologischen Funktionen unserer Spezies und den höheren mentalen Prozessen gibt. Das heisst: Können wir das Denken einfach als ein Produkt unserer Neurologie und der verschiedenen Hormone und Chemikalien betrachten – oder ist es sogar in biologischer Hinsicht etwas Spirituelles und Undefinierbares? Haben wir also, wie Descartes behauptet hatte, einen freien Willen, während die Tiere mechanistisch und in ihren biologischen Rollen gefangen sind?
Haben wir ihn?
Ich denke gerne, dass mein Leben selbstbestimmt verlaufen ist, aber natürlich ist es ein Produkt des Zufalls, wie alles Leben.
Sie haben das Thema des freien Willens zum ersten Mal in «World’s End» vor 32 Jahren angegangen.
Ja, in dieser Generationengeschichte, die an meinem Geburtsort am Hudson River spielt, habe ich mich Folgendes gefragt: Wie viel von dem, was wir genetisch erben, führt dazu, dass wir unser Verhalten kontrollieren? Wenn wir das Gerippe unseres Vaters und die Nase unserer Mutter haben, was ist dann mit dem Verhalten unserer Eltern? Sind wir gezwungen, den gleichen Weg zu gehen? Oder haben wir einen freien Willen und die Fähigkeit, unser Leben auf unsere eigene Weise zu organisieren? Damals hatte ich keine klare Antwort darauf.
Und heute?
Neurologen und Endokrinologen haben unsere hormonellen Geheimnisse zunehmend freigeschaltet. Man kommt nicht umhin, festzustellen, dass unser Verhalten viel stärker von der Biologie kontrolliert wird, als wir bisher dachten. Der freie Wille ist wohl eine Illusion.
Würden Sie sagen, dass das Schreiben einer Geschichte ein Akt des freien Willens ist?
Kunst und Selbstmord sind reine Akte des freien Willens, obwohl Talent, Disposition und Lust auf Kunst genetisch bedingt sind – und letztlich irrelevant, da der Imperativ des Todes alles aufhebt. Das Beste, was ich Ihnen geben kann, ist Folgendes: Wenn wir sehr, sehr viel Glück haben, können wir das Mysterium des Lebens vielleicht über die Kunst angehen und gleichzeitig versuchen, auf rein körperlicher Ebene so gut zu leben, wie wir können. In diesem Sinne hatte ich in meinem Leben tatsächlich sehr viel Glück.
Am Ende ist der freie Wille eine philosophische Debatte. Haben Sie die Kunst gewählt – oder war es umgekehrt?
Man könnte sagen, dass die Kunst mich gewählt hat. Die Frage ist dann ja, ob ich in einem kollektiven Unbewussten wohne. Ich glaube schon.
In Ihrem neuesten Roman «Das Licht» geht es um Timothy Leary, den Guru der LSD-Bewegung in den 1960er-Jahren. Warum verlangen die Leute immer wieder nach einer «Heldenfigur»?
Weil wir schnell aufgeben, weil es einfacher ist, Hilfe von einem Guru – sei es einem Drogenmeister oder dem Papst in Rom – zu erhoffen, als selber nach Lösungen zu suchen. Leary, wie auch andere historische Persönlichkeiten, die ich in meinen Romanen verwendet habe, war die Art von Heldenfigur, die wir alle suchen, die uns ans Licht bringen und all diese nervenden existentiellen Probleme lösen können.
Ist ein selbstbestimmtes Leben mit zunehmendem Alter leichter zu erreichen?
Verzweiflung ist das, was man mit zunehmendem Alter erreicht.
Ist Selbstbestimmtheit in der heutigen Welt schwieriger zu erreichen als vor 50 Jahren?
Die Weltbevölkerung hat sich in dieser Zeit verdreifacht. Die globale Erwärmung zerstört die Welt und es gibt Kriege um Ressourcen. Sagen Sie es mir.
Nun: Die meisten Menschen in den westlichen Ländern würden wahrscheinlich sagen, dass ihr Leben selbstbestimmt ist. Könnte es sein, dass sie Freiheit mit Selbstbestimmung verwechseln?
Ich möchte an die Bar gehen, weil ich einen Drink brauche, weil ich einen genetischen Marker habe, der mich anfällig für Alkoholismus macht. Ist diese Reise in die Bar selbstbestimmt? Ich möchte eine Geschichte schreiben, weil ich genetisch programmiert bin, um das zu tun – ist dieser Prozess selbstbestimmt? Ich will heute Abend Fisch statt Huhn essen, also gehe ich zum Fischgeschäft. Ist das Selbstbestimmung oder Wahl und wird diese Wahl intellektuell oder in den tiefsten Tiefen meines bakteriell manipulierten Verdauungstraktes getroffen? Sie sehen: Freiheiten haben wir genug, aber das heisst noch lange nicht, dass wir selbstbestimmt handeln.
Was ist für einen Autor eigentlich das Beste daran, älter zu werden?
Ich denke, dasselbe wie für jeden Künstler: Je mehr Erfahrungen man macht, desto mehr Perspektiven gewinnt man. Doch das macht nicht unbedingt glücklicher. Denn wie schrieben doch die Existenzialisten: «Alles ist absurd, wenn man weiss, dass man zum Tode verurteilt ist.» Und das sind wir alle. Wozu also das Ganze hier? Als John Updike, eines meiner Vorbilder, todkrank war, wurde er einmal gefragt: Ist es nicht tröstlich, dass Sie Kinder und Enkel hinterlassen? Er antwortete: Mag sein. Aber meine Kinder sind eben nicht ich. Ist das nicht ein Gedanke, den wir alle haben?
T. C. Boyle
Rockstar und «Enfant terrible» der Literatur
Tom Coraghessan – kurz T. C. Boyle (70) – stammt aus Peekskill (New York), wuchs mit alkoholkranken Eltern auf und wurde selbst zum Junkie. Er gilt als einer der bedeutendsten US-Schriftsteller der Gegenwart. Schon sein erster Roman «Wassermusik» machte ihn 1982 berühmt, 15 weitere Romane folgten, der letzte heisst «Das Licht» (2019) und handelt vom LSD-Pionier Timothy Leary. Boyle wurde mit Auszeichnungen überhäuft, seine Bücher werden in 30 Sprachen übersetzt und seine Liveauftritte machten ihn zum Rockstar und «Enfant terrible» der Literatur. Daneben lehrte er Englisch an der University of Southern California. T. C. Boyle ist seit 45 Jahren mit Karen verheiratet, mit der er drei Kinder hat. Das Paar lebt in Montecito bei Santa Barbara in Kalifornien.