In ihrem Roman «Die Ungeduldigen» thematisiert die französische Erfolgsautorin Véronique Olmi den Beginn der Frauenbewegung. Ein Gespräch über Freundschaft, Mütter und die Herausforderungen eines selbstbestimmten Lebens.
Ihr Roman «Die Ungeduldigen» zeichnet den Lebensweg einer Mutter und ihrer drei Töchter in Aix-en-Provence im Zuge der 1968er-Bewegung nach. Weshalb haben Sie gerade diese Epoche gewählt?
Mich hat interessiert, wie sich die damaligen Ereignisse in Paris, im Zentrum von Frankreich, mit der Zeit auf die Peripherie ausgewirkt hatten. Welchen Einfluss sie auf das Leben der Menschen hatten und wie politische und gesellschaftliche Umbrüche auch in die Privatsphäre vordrangen. Zudem war es eine wichtige Epoche für die Selbstbestimmung der Frau.
Und was hat es mit der Ungeduld auf sich?
Im Falle der Familie Malivieri aus meinem Buch kommt das, was in Paris passiert ist, zwar erst mit Verzögerung an, fühlt sich dann aber wie eine wahre Erschütterung an. Besonders für die Töchter. Es ist wie ein plötzlicher Riss in der Wand. Sie entdecken, dass die Welt viel grösser und diverser ist, als man es ihnen bisher erzählt hat. Dass es nicht die «eine Welt» gibt, sondern ganz viele Welten und unzählige Möglichkeiten. Sie sind ungeduldig darauf, diese Welten zu entdecken und herauszufinden, welche davon ihnen am besten entspricht.
Ist Ungeduld ein Motor der Selbstbestimmung?
Ich denke schon. Um sich selbst zu finden und sich frei zu machen von den Lebens- und Moralvorstellungen der Eltern und des Umfelds, in dem man aufgewachsen ist, bedarf es dieser Ungeduld. Und auch eines gewissen Ungehorsams. Man muss neugierig sein und ausbrechen wollen. Nur das gibt einem die Kraft, alles Bekannte hinter sich zu lassen. Denn der Schritt in ein selbstbestimmtes Leben ist nicht einfach und kann oft auch beängstigend sein.
Wieso beängstigend?
Man gibt nicht von einem Tag auf den anderen die Ideen und Werte auf, mit denen man aufgewachsen ist. Das ist etwas, was in einem Menschen arbeitet, ihn verändert. Dieser Schritt ist zwar verlockend und befreiend, aber oft auch mit Angst und dem Schuldgefühl verbunden, die eigene Familie zu verraten und zu verlassen.
Sie sind selbst in Aix-en-Provence in einer sehr katholischen Familie aufgewachsen. Haben Sie diese Zweifel und Ängste auch persönlich erfahren?
Absolut! Und ich war damit vollkommen überfordert. Alles, was damals passierte, – zum Beispiel die sexuelle Befreiung oder die Legalisierung der Abtreibung im Jahr 1974 – stand im totalen Widerspruch zu den Werten, die man mir zuhause vermittelte. Meine Eltern waren sehr gläubige Leute und verstanden das alles nicht, auch wenn sie es versuchten. Deshalb war das alles für mich zunächst ein Schock, der grosse innere Konflikte auslöste.
Sie haben es also ähnlich erlebt wie die drei jungen Frauen, die Sie beschreiben?
Ganz genau so. Momente wie diese, in denen alle Sicherheiten ins Wanken geraten, sind oft sehr schmerzhaft, aber natürlich auch sehr wichtig. Sie ermöglichen es einem, festgefahrene Lebensweisen zu hinterfragen und sich auf die Suche nach seiner eigenen Wahrheit zu machen. In meinem Buch wird dies durch einen gesellschaftlichen Umbruch befeuert, so etwas geschieht aber auch in ruhigeren Zeiten. Insbesondere im Teenager-Alter.
Inwiefern?
Teenager stellen vieles, woran sie bis dahin geglaubt haben, in Frage. Sie wollen alles ausprobieren, weil sie entdecken, wie grenzenlos die Möglichkeiten sind. Das ist toll, bringt sie aber auch in eine Zwickmühle: zwischen der Loyalität zu seinen Eltern und dem Wunsch, ein selbstbestimmtes Leben zu führen.
Sie haben selbst zwei Töchter. Wie haben Sie sie erzogen?
Oje, ich fürchte, ich habe in dieser Beziehung viel falsch gemacht. Ich wollte ganz anders sein als meine Eltern und meine Töchter zu mehr Freiheit erziehen. Dabei bin ich wohl manchmal etwas über das Ziel hinausgeschossen und würde heute vieles anders machen. Trotzdem freut es mich, zu sehen, dass meine Töchter sehr angstfrei sind und sich wenig selbst im Weg stehen. Ich habe insgesamt das Gefühl, dass die junge Generation heute das Leben wesentlich selbstbestimmter angeht. Sie scheint sich weniger davor zu fürchten, Fehler zu machen. Das finde ich sehr gut.
Es geht in Ihrem Buch auch um Freundschaft. Welche Rolle spielt diese beim Streben nach Selbstbestimmung?
Freundschaft ist etwas vom Schönsten und Wichtigsten im Leben. Ich glaube, dass wir uns durch andere auch selbst entdecken, besonders als Frau. Wir finden in anderen Frauen Bilder und Arten des Frauseins, die wir bewundern und die uns darin bestärken, so zu sein, wie wir sein wollen.
Zwei Ihrer Protagonistinnen gehen nach Paris und suchen dort ihr Glück. Ist Paris für Sie die Stadt der Freiheit und der Selbstbestimmung?
Paris ist eine schwierige Stadt. Heute liebe ich sie und würde nie weggehen wollen, aber ich erinnere mich noch gut daran, wie verloren ich mir vorkam, als ich als junge Frau hier ankam. Auch wie enttäuscht ich war. Man kommt an mit seiner Ungeduld und seinen Hoffnungen und alles verpufft sofort, weil die Stadt einen nicht aufnimmt. Das ist einer der grossen Unterschiede zwischen der Stadt und der Peripherie: Man bekommt keinen Platz zugewiesen, sondern muss sich selbst einen schaffen. Das ist am Anfang sehr verunsichernd, bis man schliesslich begreift, dass es auch eine Chance ist: Man kann sich ausprobieren und selbst entscheiden, wer und wie man sein will.
Seit Beginn der Frauenbewegung sind inzwischen über 50 Jahre vergangen. Wurden die Ziele hinsichtlich der Selbstbestimmung der Frau erreicht?
Ich denke, das ist ein langwieriger Kampf, der noch viel Zeit in Anspruch nehmen wird. Die Frauen haben noch längst nicht alles erreicht. Und auch noch längst nicht alles gesagt.
Véronique Olmi
Véronique Olmi wurde 1962 in Nizza geboren und lebt heute in Paris. Sie zählt zu den bekanntesten Dramatikerinnen Frankreichs und wurde für ihre Arbeit mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Ihre Theaterstücke wurden in viele Sprachen übersetzt und werden in Deutschland, Österreich und in der Schweiz aufgeführt. Ihr Buch «Die Ungeduldigen» erschien 2022 im Aufbau Verlag.