Es gibt keine Alternative zur Verdichtung, sagt der Stadtwissenschaftler und Vordenker Vittorio Magnago Lampugnani. Statt Schlafsiedlungen müsse man Stadtquartiere bauen, fordert er. Und er plädiert für weniger Vorschriften und mehr Toleranz unter Nachbarn.
Herr Lampugnani, 1950 lebte nur knapp ein Drittel der Weltbevölkerung in Städten, heute ist es über die Hälfte und 2050 werden es laut Prognosen der UNO fast 70 Prozent sein. Was macht die Stadt so attraktiv?
Die Stadt wurde erfunden, um Menschen zusammenzubringen, sie zu schützen und ihnen zu ermöglichen, miteinander zu arbeiten und dadurch produktiv zu sein. Auch und vor allem, um ihnen zu einem Dialog zu verhelfen und ihrer Bestimmung als soziale Wesen zu entsprechen. Deshalb ist die Stadt vermutlich die beste Erfindung der Menschheit in den letzten 10 000 Jahren.
Spätestens seit 2007, als Ihr Buch «Städtische Dichte» erschien, plädieren Sie für eine innere Verdichtung der Städte. Weshalb?
Weil wir gar keine Alternative haben. Die Zersiedlung und damit auch die Zerstörung der Landschaft hat ein enormes Ausmass angenommen. Das muss aufhören. Wenn wir so weitermachen, zerstören wir unsere Lebensbasis. Wir sollten nur noch dort bauen, wo bereits gebaut wurde – und bei Bedarf verdichten.
Sind verdichtete Städte für die Bewohnerinnen und Bewohner nicht beengend und unwohnlich?
Finden Sie das historische Zentrum von Rom oder das mittelalterliche Siena unattraktiv? Dort wurde seinerzeit sehr eng aneinandergebaut, es gab kaum Gärten und es blieb wenig Platz für Strassen und öffentliche Plätze. Die Strassen und die Plätze, die es gab, waren dafür besonders schön. Oder nehmen wir die Stadtentwicklung im 19. Jahrhundert: Damals wurden viele europäische Städte in kurzer Zeit grossflächig erweitert und gezielt verdichtet, seien dies Paris, Berlin, Barcelona, Mailand oder auch Zürich. Es entstanden neue, kompakte städtische Quartiere, die bis heute extrem begehrt sind; nicht zuletzt, weil sie kurze Wege bieten und uns wertvolle Lebenszeit schenken, wodurch wir selbstbestimmter sind. Verdichtung per se ist also nicht schlecht. Es kommt darauf an, wie sie städtebaulich und architektonisch umgesetzt wird.
Anders als im 19. Jahrhundert gibt es im städtischen Raum kaum mehr unbebaute Flächen. Bedeutet Verdichtung heute also, so hoch wie möglich zu bauen?
Hochhäuser sind sicher eine Lösung, aber ich halte sie nicht für das Idealrezept. Sie erlauben zwar eine grosse Konzentration an Wohnungen, brauchen aber viel Abstand zu den Nachbarhäusern, um diese nicht zu verschatten. Unsere Untersuchungen zeigen: Die höchste Verdichtung erreichen wir durch Blockrandüberbauungen mit fünf bis acht Stockwerken. Aber es geht nicht um Dichte allein. Es geht um eine qualitätsvolle Dichte.
Was verstehen Sie unter qualitätsvoller Dichte?
Wir müssen die Voraussetzung für Urbanität schaffen, indem wir keine Schlafsiedlungen bauen, sondern Stadtquartiere. Keine lieblos aneinandergereihten Wohnzeilen mit trostlosem Abstandsgrün, sondern Häuser, die so zueinanderstehen, dass sie schöne, brauchbare Räume schaffen. Qualitativ verdichten bedeutet auch, bestehende Bausubstanz möglichst zu erhalten und bei Neubauten langlebige Materialen einzusetzen. Und natürlich bedeutet gute Verdichtung nicht nur eine hohe Bebauungs-, sondern auch eine hohe Belegungsdichte.
Inwiefern?
Es bringt nichts, wenn wir Häuser abreissen und dichter bauen, dort aber am Ende gleich viele Menschen wohnen wie vorher, weil lediglich grössere Wohnungen entstanden sind. Wir leben heute durchschnittlich auf doppelt so viel Fläche wie vor hundert Jahren. Dieser Standard ist überzogen. Er trägt wesentlich dazu bei, dass bezahlbarer Wohnraum knapp wird.
Führt Verdichtung zwangsläufig zur Gentrifizierung, wie Kritiker monieren?
Das hängt davon ab, welches Ziel man mit der Verdichtung verfolgt. Wenn man klug verdichtet mit dem Ziel, die Stadt besser zu machen, dann entwickelt man lebendige Quartiere, mit Arbeitsflächen, Schulen, Geschäften, Lokalen sowie schönen Plätzen und Wohnungen für Menschen aus allen Einkommensklassen. Der Wert einer Wohnung hängt ja nicht nur von ihrer Ausstattung ab, sondern auch und vor allem von ihrer Umgebung. Kluge Investoren haben das längst erkannt. Bei Grossprojekten streben sie eine ausgewogene Mischung von hochpreisigen Wohnungen und bezahlbarem Wohnraum an. Und sie fördern werthaltige, energetisch optimierte Bauten.
Wir erleben heute vielerorts eine paradoxe Situation: Während der städtische Wohnraum immer knapper wird, erschweren Bauvorschriften zunehmend die Verdichtung.
Ich bin kein Gegner von Normen. Sie sind wichtig, um unser Zusammenleben zu regeln. Aber die Bauvorschriften sind teilweise sehr kompliziert und viele von ihnen stammen aus der Zeit des uneingeschränkten Wachstums. Die Lärmschutzverordnung beispielsweise setzt Standards fest, die auf dem Land angemessen sind, aber nicht in der Stadt. Sie zwingen dazu, die Wohnungen von der Strasse abzuwenden, was jeder urbanen Architektur widerspricht und die Verdichtung einschränkt. Wir wollen heute alles: lebendige Urbanität und vollkommene Ruhe. Das funktioniert nicht. Wir müssen uns entscheiden.
Wo sehen Sie das grösste Verdichtungspotenzial?
In den Agglomerationen. Die kompakten Innenstädte sind mehr oder weniger fertig gebaut und sie funktionieren. Aber in den Vorstädten gibt es noch Platz und auch grossen Handlungsbedarf. Der suburbane Raum ist heute eine verwirrende Mischung aus Einfamilienhausgruppen, Gartenkolonien, Bürogebäuden und leer stehenden oder umgenutzten Fabriken. Er muss neu komponiert werden. Hier können neue, urbane Quartiere mit ausgewogener Dichte und hoher Lebensqualität entstehen.
Wird die Stadt auch in Zukunft ihre Anziehungskraft behalten? Trotz Pandemieerfahrung? Trotz der fortschreitenden Digitalisierung und Zunahme von Homeoffice?
Wenn wir unsere Vorstellung von städtischer Dichte und Urbanität aufgeben, wäre das nicht nur für die Natur und für den Planeten verheerend. Wir würden die Grundlagen unseres modernen kollektiven Lebens aufkündigen und damit auch unser Verständnis von Gemeinschaft und Kultur.
Vittorio Magnago Lampugnani
Vittorio Magnago Lampugnani (1951) ist einer der international bedeutendsten Stadtwissenschaftler. Nach Stationen in Stuttgart, Harvard, Berlin und Frankfurt lehrte er bis 2016 als Professor für Geschichte des Städtebaus an der ETH Zürich. Von 1986 bis 1996 gab er die Zeitschrift Domus heraus, von 1990 bis 1994 war er Direktor des Deutschen Architektur-Museums in Frankfurt am Main. Er führt ein eigenes Architekturbüro in Mailand und mit seinem Partner Jens Bohm zusammen Baukontor Architekten in Zürich. Lampugnani hat zahlreiche Immobilienprojekte in verschiedenen europäischen Ländern realisiert, darunter das Forschungs- und Verwaltungszentrum Novartis Campus in Basel, die U-Bahn-Station Mergellina in Neapel und das Richti-Quartier in Wallisellen. Daneben hat er zahlreiche Bücher verfasst, darunter die Standardwerke «Städtische Dichte» (NZZ Libro) und «Die Stadt im 20. Jahrhundert» (Verlag Wagenbach).