- Die Europäische Kommission schätzt, dass 5–6 % der Rentner in der EU ihr Heimatland verlassen, um ihren Lebensabend im Ausland zu verbringen.
- Für viele ist Migration eine Möglichkeit, die eigene wirtschaftliche Lage zu verbessern, indem sie an einen Ort mit geringeren Lebenshaltungskosten ziehen.
- Bei der Migration geht es auch darum, die Kontrolle über das eigene Leben zu übernehmen, ein Klima zu wählen, das zum persönlichen Wohlbefinden passt, sowie ein neues Abenteuer zu starten.
Wandern Ihrer Meinung nach viele europäische Senioren im Alter aus?
Im Jahr 2007 reiste ich im Rahmen meiner Forschungsarbeiten nach Brüssel und befragte zu diesem Thema einen Forscher der Europäischen Kommission. Wir sprachen über Statistiken zu Senioren, die innerhalb der EU dauerhaft umgezogen waren. Er sagte, die Lage sei schwer einzuschätzen, weil zur Zahl der Altersmigranten und ihren Zielen kaum Daten vorlägen. Dies liege vor allem daran, dass EU-Bürger und ihre Angehörigen das Recht haben, sich innerhalb der EU-Mitgliedstaaten frei zu bewegen und ihren Wohnort zu wählen, ohne sich im Gastland melden zu müssen. Er schätzte, dass 5–6 % der Rentner ihre Heimat verlassen, um ihren Ruhestand in einem anderen EU-Land zu verbringen. Aufgrund meiner Forschung sehe ich hier aber eine steigende Tendenz.
In welchem Alter wagen Senioren im Durchschnitt diesen Schritt? Gleich nach Rentenbeginn oder viel später, etwa in den Achtzigern?
Die meisten wandern gleich nach Rentenbeginn aus. Ich denke, Migration ist heute Teil einer Altersstrategie geworden. Altersmobilität und Altersmigration sehen heute anders aus als früher. Ich habe rund 20 Menschen befragt, die mit Anfang 70 innerhalb der EU umgezogen sind. Einige hatten lange in Berufen gearbeitet, in denen das auch im Alter möglich ist, etwa im Immobilienbereich, aber die meisten hatten Zeit gehabt, ihren Ruhestand zu Hause zu erleben, und festgestellt, dass sie etwas anderes wollten.
Welche Gegenden sind bei Senioren am beliebtesten?
Ich habe meine Forschung vor allem auf Spanien sowie Süd- und Westfrankreich konzentriert. Das sind sehr beliebte Gebiete. In Frankreich besteht die Tendenz, dass die Rentner ins Binnenland ziehen, weil es dort billiger ist. So gibt es an der gesamten französischen Südküste eine starke Abwanderung aus den begehrten Küstenorten ins Binnenland, was zu erheblichen Einsparungen beim Immobilienkauf führt. Steigender Beliebtheit erfreuen sich auch Portugal und die Algarve, und für die Franzosen spielt Marokko eine grosse Rolle als Altersruhesitz.
Welche Triebfedern stehen hinter dem Wunsch, das Alter an einem anderen Ort zu verbringen?
Ich sehe vier Hauptfaktoren: das Klima, die Abenteuerlust beziehungsweise die Angst vor dem «Bekannten», finanzielle Erwägungen und auch das Internet, das heute eine ganz wichtige Rolle spielt . Noch vor zehn Jahren hätte sich kaum jemand einen solchen Schritt vorstellen können. Heute ist es dagegen viel einfacher geworden – ans Internetbanking ist man ohnehin gewöhnt, und den Kontakt zu Angehörigen und Freunden hält man mit Facetime oder Skype. Alle, die ich befragt habe, erklärten, die Online-Welt und die digitalen Supportleistungen hätten ihnen die Entscheidung erleichtert. Das Klima wiederum hängt eng mit vielen anderen Aspekten des Lebens zusammen, etwa mit der Mobilität, und hat grossen Einfluss auf das Wohlbefinden und den Tatendrang des Einzelnen.
Welche Aspekte des Sozial- und Gesundheitssystems eines Landes sind für Auswanderer wichtig?
Wenn es an einem Ort eine Expat Community gibt, ist das sehr wichtig, denn das hilft den neu Zugezogenen, sich einzuleben. Sie können dann selbst entscheiden, ob und wie stark sie sich einbringen möchten, besonders wenn sie die Landessprache nicht gut beherrschen. Ebenso wichtig ist das Gesundheitswesen. Immer mehr Menschen, die man der Mittelschicht zurechnen würde, wandern aus, um ihre wirtschaftliche Lage im Alter zu verbessern , weil sie keine hohe Rente und keine grossen Ersparnisse haben. Hier geht es dann um eine wirtschaftliche Entscheidung: Gesucht wird ein Ort, an dem es sich billiger leben lässt.
Glauben Sie, dass ein solcher Schritt zu mehr Glück und Lebensfreude führt?
Ich glaube schon, dass diese Menschen glücklicher sind, aber es ist ein zweischneidiges Schwert. Einerseits denke ich, dass die Babyboomer das Altern ebenso angehen wie alles andere im Leben – anders als die Generation ihrer Eltern . Sie sind Anwälte in eigener Sache und Motoren des Wandels. Die Menschen, mit denen ich im Rahmen meiner Forschungsarbeiten gesprochen habe, sind mit ihrer Entscheidung sehr glücklich. Sie vermissen zwar ihre Heimat und ihre Freunde und Angehörigen, aber sie haben den Eindruck, das Altern stärker unter Kontrolle zu haben, und das ist ein gutes Gefühl. Andererseits besteht seitens Regierungen wie auch im öffentlichen und privaten Sektor der Diskurs: «Sorge selbst für das Alter vor, denn vom Staat ist nichts zu erwarten.» Frühere Generationen würden dies in Frage stellen, aber in einer neoliberalen Wirtschaft liegt die Last beim Einzelnen. Ich finde es grossartig, dass diese Menschen die Möglichkeit haben, etwas anders zu machen, ein glückliches Leben zu führen und das Altern optimistisch zu sehen.