- Immer mehr Menschen in Europa leben in Familien mit bis zu vier Generationen.
- Für das künftige europäische Sozialmodell spielen generationenübergreifende Beziehungen eine entscheidende Rolle.
- In Europa gehören finanzielle Zuwendungen immer noch zu den am meist verbreiteten Formen der Unterstützung zwischen Eltern und ihren Kindern. Aber soziale Faktoren wie die «immaterielle» Weitergabe von Familientraditionen und -werten werden ebenfalls immer wichtiger.
Langlebigkeit und der demografische Wandel in Europa haben das Verhalten innerhalb der Familie verändert: wie die einzelnen Familienmitglieder miteinander umgehen, wie sie sich austauschen und wie sie Aspekte ihres Lebens, die ihnen am Herzen liegen, weitergeben wollen.
Clever haushalten
Laut dem von der Marketingberatungsfirma Wealth-X veröffentlichten Family Wealth Transfers Report vom Januar 2015 werden die Superreichen der Welt der heranwachsenden Generation in den nächsten 30 Jahren USD 16 Billionen an Cash, Immobilien und sonstigen Vermögenswerten hinterlassen. Mehr als die Hälfte dieser Vermögensübertragungen wird in Europa stattfinden, wo 69% der weltweit vererbten Milliardärsvermögen liegen, so eine diesjährige Studie der Vermögensberatungsfirma Ahmadoff & Company.
Das vererbte Vermögen reicht von Privatunternehmen über Aktien und Immobilien bis hin zu flüssigen Mitteln, die die Erben nach Belieben ausgeben oder investieren können. «Die Übertragung von Familienvermögen gibt neuen Superreichen die Möglichkeit, das übernommene Vermögen durch unternehmerisches Handeln zu vermehren und die ursprünglichen Werte und Vermächtnisse noch erfolgreicher weiterzugeben», heisst es im Bericht von Wealth-X. Ohne richtige Schulung und Kommunikation über finanzielle Werte zwischen älteren und jüngeren Generationen laufen Familien jedoch Gefahr, solche Vermächtnisse zu verlieren.
Zum Glück sind Familien heutzutage viel häufiger bereit, über Geld zu sprechen und jüngere Generationen auf ihre Führungsrolle im Familienunternehmen aktiv vorzubereiten. «In Europa ist eindeutig ein Wandel im Gange», sagt Peter Schulz von Siemens, Mitglied der weltweit renommierten Siemens-Familie und Partner beim Vermögensverwalter Portas Capital in Zürich. «Die jungen Menschen von heute wissen besser, was in der Welt vor sich geht, und sie übernehmen schon früh im Leben Verantwortung für Entscheidungen der Familie.»
Wachsende Stammbäume
Die Wissensbildung wird durch ältere Generationen verschiedentlich gefördert: Sie schicken ihre Kinder in die besten Schulen, sorgen dafür, dass sie den Umgang mit Geld lernen, und sprechen mit ihnen ungezwungen über die finanzielle Lage der Familie und ihre philanthropischen Engagements. Familien in ganz Europa stellen sicher, dass die nächste Generation dafür gerüstet ist, auf ihrem Erbe aufzubauen und Wirtschaftskrisen zu meistern. «Das ist etwas vom Wichtigsten, was eine Familie zum Schutz ihres Vermögens tun kann», erklärt Christian Hirschbiel, Präsident der Society of Trust and Estate Practitioners (STEP) in Deutschland. Erben, denen ein grosses Vermögen überlassen wird und die nie gelernt haben, damit umzugehen, sind laut Hirschbiel gefährdet und schlecht darauf vorbereitet, die Verantwortung für die Erbschaft zu übernehmen. «In solchen Fällen kann alles, was die älteren Generationen aufgebaut haben, verloren gehen und die Familien brechen auseinander», führt er aus.
Mittel und Wege der sozialen Unterstützung
Bei der sozialen Unterstützung ist das System weniger einseitig. Marco Albertini, Dozent an der Universität von Bologna, meint, die grösste soziale Unterstützung werde weitgehend von Eltern mittleren Alters (45 bis 65 Jahre) gewährt, und zwar in zwei Richtungen: an die jüngere und die ältere Generation der Familie.1 Auch «immaterielle» Übertragungen in Form von Zeit und Aufmerksamkeit können gemäss Gunhild O. Hagestad und Katharina Herlofson durchaus materielle Auswirkungen haben.2 Ein gutes Beispiel sind Grosseltern, die sich um ihre Enkel kümmern, damit die jungen Eltern beide arbeiten und ein doppeltes Einkommen sichern können.
Laut Hagestad und Herlofson hat die gemeinsame höhere Lebenserwartung die Dauer der familiären Beziehungen markant verlängert. Heute kann die Eltern-Kind-Beziehung 60 bis 70 Jahre dauern, jene zwischen Grosseltern und Enkelkindern 30 bis 40 Jahre. Dies hat erheblichen Einfluss auf die Beziehungen zwischen den Generationen.
Ausserdem gehen sie davon aus, dass immer mehr Menschen einen Teil ihres Lebens in Familien mit vier oder mehr Generationen verbringen werden. Gemäss der Survey of Health, Ageing and Retirement in Europe (SHARE) leben 25% der Befragten zwischen 50 und 60 Jahren in Österreich, Dänemark, Frankreich und Schweden in Familien mit vier Generationen.
Generationenübergreifende Beziehungen
Professor Albertini ist der Ansicht, dass die Qualität und die Quantität der informellen Unterstützung durch die Familie während des «gemeinsamen Lebenswegs der verschiedenen Generationen» sich wesentlich auf das wirtschaftliche, körperliche, seelische und soziale Wohlbefinden der Menschen auswirken. Generationenübergreifende Beziehungen verändern und prägen die Bevölkerungsstruktur, den Wirtschaftszyklus und die Familienkultur sowie Werte und Sozialpolitik. Deshalb seien sie für die künftige Entwicklung und Nachhaltigkeit des Sozialmodells in Europa ein entscheidender Faktor.
Die Familie als Vorreiter
Die Bindungen zwischen den Generationen und die Weitergabe von materiellem Vermögen sowie sozialer und psychologischer Unterstützung sind zentrale Elemente des Familienlebens und sozialer Netzwerke – und manchmal auch des Unternehmenswachstums. Die Art, wie sich die Generationen innerhalb von Familien gegenseitig unterstützen, wird eine grosse Rolle dabei spielen, wie die Gesellschaft in Europa die Alterung der Familienverbände bewältigt. Politische Entscheidungsträger sollten sich an der finanziellen Unterstützung, der Betreuung von Angehörigen und Kindern und am emotionalen Beistand zwischen den Generationen orientieren und diese Beziehungen sowie deren künftige Auswirkung auf die Alters- und Sozialpolitik mitberücksichtigen.
Quellen:
2UN, Department of Economic and Social Affairs, Micro and Macro Perspectives on Intergenerational Relations and Transfers in Europe, 2007.