• Senioren möchten unabhängig bleiben: Für 91 % der Befragten war dies in einer Umfrage der Economist Intelligence Unit ein wichtiges Ziel.
  • Selbstbestimmung ermöglicht einen umfassenderen Blick darauf, was zu einem erfüllten Leben gehört: Es verbindet Autonomie, Kompetenz und soziale Bindungen in allen Lebensphasen.
  • Konzepte für aktives Altern gehen davon aus, dass Menschen mit zunehmendem Alter mehr Wert auf ihre Gesundheit und ihre sozialen Bindungen legen, mehr Erfüllung in der Arbeit finden und unabhängiger leben können.
  • Nach Prognosen der Europäischen Kommission wird der Anteil der über 65-jährigen EU-Bürger bis 2060 auf fast 30 % steigen. Das Lebensglück nimmt nach den mittleren Jahren wieder zu und bleibt dann bis zum Lebensende praktisch unverändert.

Schon immer versuchte der Mensch zu definieren, was es bedeutet, ein gutes Leben zu führen. Auch heute noch ringen Sozialwissenschaftler, Psychologen und Ökonomen mit dieser Frage. Und da die Lebenserwartung in Europa mittlerweile Rekordniveau erreicht hat, fragen viele, wie sich das zunehmende Alter auf unseren Wunsch auswirkt, ein selbstbestimmtes Leben zu führen.

Das Konzept der Selbstbestimmung beinhaltet, dass Merkmale wie Motivation, Persönlichkeit und Wohlbefinden Grundelemente darstellen, die für die Erreichung von erfüllenden Zielen benötigt werden. Autonomie, Kompetenz und soziale Bindungen sind drei Grundvoraussetzungen, um Selbstbestimmung im Leben der Menschen zur Realität werden zu lassen. Die steigende Lebenserwartung erfordert deshalb eine neue Einstellung zum Altern. Dies bedeutet, dass ältere Menschen neue Möglichkeiten finden müssen, sich in späteren Jahren anzupassen und weiterzuentwickeln.

74: Gemäss dem Institute for Applied System Analysis kann man Menschen heute erst ab einem Alter von 74 Jahren als „alt“ bezeichnen.

Altern ist nicht mehr, was es einmal war

Geht es nach Volkes Meinung, so müssten die meisten Menschen wegen der Aussicht, älter zu werden, besorgt sein. Nachlassende körperliche Reserven, schmerzende Gelenke, geringeres Einkommen und weniger Arbeitsmöglichkeiten sind nur einige der hässlichen Seiten, die oft mit dem Altern assoziiert werden.

Doch dieses Bild ist zunehmend überholt. Unsere Vorstellung von «alt» hat sich mit der Zeit verändert und wird sich in Zukunft noch weiter verändern, wenn die Menschen länger leben und dabei gesünder bleiben, meint Sergej Scherbow, Stellvertretender Direktor des Weltbevölkerungsprogramms am International Institute for Applied Systems Analysis (IIASA), einer Forschungseinrichtung mit Sitz in Österreich.

Tatsächlich kann man Menschen dem IIASA zufolge heute erst ab einem Alter von 74 Jahren als alt bezeichnen. Diese Berechnung orientiert sich nicht an der Zahl der bereits gelebten, sondern an der Zahl der verbleibenden Jahre (15 oder weniger).

Insgesamt nimmt die Lebenserwartung in ganz Europa zu. Nach Angaben der OECD steigt sie Jahr für Jahr um drei Monate und wird 2040 voraussichtlich 90 Jahre erreichen. Nach Prognosen der Europäischen Kommission wird der Anteil der über 65-jährigen EU-Bürger bis 2060 auf fast 30 % steigen.

Welche Hoffnungen auf ein gutes Leben weckt diese steigende Zahl älterer Menschen? Eine Dimension, für die sich Gerontologen und andere Forscher interessieren, ist die sogenannte Gesundheitserwartung, auch die Zahl der gesunden Lebensjahre genannt. Sie gibt an, wie viele Lebensjahre ohne gesundheitliche Einschränkung in einem bestimmten Alter noch bleiben. Diese Zahl schwankt in Europa von Land zu Land: In Frankreich hat jeder Mensch mit 65 Jahren im Durchschnitt noch neun gesunde Jahre zu erwarten, in Deutschland dagegen nur sieben.

65+: Bildung (21%) und Informationszugang (18%) sind den Schweizern über 65 erkennbar wichtiger als anderen befragten Nationalitäten.

Verantwortung für die eigene Gesundheit

Gesundheit ist nur ein Kriterium für die Lebensqualität, aber ein sehr wichtiges. In einer neuen Umfrage der Economist Intelligence Unit (EIU) bei mehr als 1.200 Menschen in Deutschland, Frankreich, Österreich und der Schweiz wurde der Erhalt der Kontrolle über die körperliche und geistige Gesundheit von der überwiegenden Mehrheit der Befragten zu den wichtigsten Prioritäten für ein wünschenswertes Leben gezählt. Dabei zeigte sich kein Unterschied zwischen den über 65-Jährigen und der Altersgruppe zwischen 35 und 65.

Dass einem rundum guten, gesunden Leben eine hohe Bedeutung beigemessen wird, erscheint nicht weiter verwunderlich. Diese Ergebnisse verdeutlichen aber, wie weit sich die Gesellschaft in ihrem Verständnis dessen, was für ein gutes Leben wichtig ist, entwickelt hat. Viele Menschen bemühen sich heute bewusst um eine gesunde Lebensweise, sei es durch mehr Bewegung oder durch weniger Stress. Hier zeigt sich eine Parallele zu der veränderten Einstellung bezüglich der Frage, inwieweit der Einzelne selbst dafür verantwortlich ist, das Leben zu führen, das er sich wünscht.

Bedürfnissonderfall Schweiz

Bei Fragen der Lebensqualität reicht es aber natürlich nicht aus, körperliches und geistiges Wohlbefinden isoliert zu betrachten. Sobald die essentiellen Grundbedürfnisse erfüllt sind, öffnet sich ein breiteres Spektrum an menschlichen Zielen. Hierzu zählen auch sinnvolle soziale Beziehungen und Selbstverwirklichung. In dieser Hinsicht unterscheiden sich Schweizer Senioren deutlich von ihren europäischen Altersgenossen. Auch sie sorgen sich um ihre Gesundheit und ihre wirtschaftlichen Ressourcen, doch spielen diese Themen keine so grosse Rolle wie in Deutschland, Frankreich und Österreich. Ausserdem klaffen die Auffassungen von jungen und alten Befragten in der Schweiz auseinander, was in den anderen Ländern nicht der Fall ist. Die Schweiz hat ein höheres BIP pro Kopf und eine geringere Rate chronischer Erkrankungen, was der Hintergrund dafür sein könnte, dass sich die primären Sorgen auf andere Bereiche der Entwicklung und Erfüllung verlagern.

Der EIU-Umfrage zufolge sind Bildung (21 %) und Informationszugang (18 %) den Schweizern über 65 erkennbar wichtiger als den anderen befragten Nationalitäten. Ausserdem verdeutlicht der hohe Wert (35 %), den die Schweizer Befragten im Alter von 35 bis 65 Jahren den zwischenmenschlichen Beziehungen beimessen, die Bedeutung des sozialen Umfelds. Die über 65-Jährigen nennen diesen Faktor seltener, möglicherweise weil in der älteren Generation viele bereits relativ enge Beziehungen in ihrem sozialen Umfeld haben. Diese These verdeutlicht der Global Age Watch Index 2015, wonach neun von zehn über 50-Jährigen in der Schweiz über ein starkes Unterstützungsnetz verfügen, an das sie sich wenden können. Dieses breitere Spektrum menschlicher Bedürfnisse zu erkennen, kann kompliziert sein, ist aber darum nicht weniger wichtig für ein erfülltes Leben.

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91%: Eine überwiegende Mehrheit der Befragten (91%) erklärte, Unabhängigkeit sei für sie äusserst wichtig.

Unabhängigkeit ist entscheidend

Das Konzept der Selbstbestimmung besagt: Je mehr Entscheidungen die Menschen selbst treffen können, und je mehr sie sich mit der Gesellschaft verbunden fühlen, desto erfüllter – und glücklicher – ist in der Regel das Leben. Der Grad an Selbstbestimmung ist eine hilfreiche Messgrösse, denn im Mittelpunkt steht hier die Unabhängigkeit – ein überaus wichtiger Aspekt des Alterns. So gaben in der EIU-Umfrage die Befragten aller Altersgruppen mit grosser Mehrheit an, dass der Erhalt der Unabhängigkeit im späteren Leben von zentraler Bedeutung ist.

Autonomie ist eine unverzichtbare Voraussetzung für ein selbstbestimmtes Leben, und die Fähigkeit zu unabhängigen Entscheidungen ist in diesem Ethos eingebettet. So erklärte denn auch eine überwiegende Mehrheit der Befragten (91%), Unabhängigkeit sei für sie äusserst wichtig. Die zentrale Bedeutung der Autonomie berührt also den Kern eines selbstbestimmten Lebens, und Menschen aller Altersgruppen wissen offenbar um die Notwendigkeit, sie in ihr Leben einzubinden.

Wie diese einzelnen Elemente auf das persönliche Wohlbefinden beeinflussen – also die Beurteilung der eigenen Lebensqualität – ist ein Massstab, an dem wir Selbstbestimmung messen können. Solche Bewertungen helfen, denn sie ergänzen traditionelle «objektive» Kriterien und berücksichtigen auch Autonomie und Unabhängigkeit – beides Belange, die beim Thema Altern sehr im Vordergrund stehen.

Paradoxien des Glücks

Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass die Lebenszufriedenheit von der Jugend bis zum mittleren Erwachsenenalter zunimmt und mit etwa 40 Jahren ihren Höhepunkt erreicht. Am wenigsten glücklich sind Menschen in den 40ern und frühen 50ern. In dieser Phase erleben viele eine Glücksflaute – die sogenannte midlife crisis.

Doch dann zeigt sich das sogenannte «Paradox des Alterns»: Nach der Mitte des Lebens werden die Menschen im Durchschnitt wieder glücklicher trotz zunehmender körperlicher Probleme und oft sinkender Einkommen. «Das Glück nimmt nach den mittleren Jahren wieder zu und bleibt dann bis fast bis zum Lebensende praktisch unverändert», erklärt Alfonso Sousa-Poza, Professor für Wirtschaftswissenschaften an der Universität Hohenheim in Stuttgart und Leiter des Instituts für Health Care & Public Management. In dieser Hinsicht sind sich die Menschen in allen Ländern und Kulturen erstaunlich ähnlich.

Alonso Sousa-Poza
Das Glück nimmt nach den mittleren Jahren wieder zu und bleibt dann bis fast zum Lebensende praktisch unverändert.

Aktiv altern

Alan Walker, Professor für Sozialpolitik und Sozialgerontologie an der Universität Sheffield und führender Altersexperte, meint, wir seien mit unserer Einstellung zum Altern in der Vergangenheit stecken geblieben. In einer Rede erklärte er kürzlich, die Langlebigkeitsrevolution sei von Verbesserungen im Gesundheitsbereich getragen. Walker stellt sich eine Welt vor, in der wir «aktiv altern», indem wir mit zunehmendem Alter unsere Gesundheit und unsere sozialen Bindungen erhalten, mehr Erfüllung in der Arbeit finden und im Alltag unabhängiger leben.

In den letzten zehn Jahren haben viele europäische Staaten nach neuen Möglichkeiten gesucht, um dieses aktive Altern zu fördern. Der neueste Active Ageing Index der UNO weist denn auch auf verschiedene Verbesserungen hin: Frankreich hat im letzten Jahrzehnt bei 55- bis 59-jährigen Frauen eine starke Zunahme der Beschäftigung verzeichnet. Und Deutschland schneidet in Bezug auf unabhängiges Leben und die Fähigkeit zum aktiven Altern im Vergleich zum europäischen Durchschnitt besonders gut ab.

Die Grundlagen für ein gesundes und selbstbestimmtes Leben werden im Laufe des gesamten Lebens gelegt. Dabei hilft es, sich täglich zu bewegen, sich vollwertig zu ernähren, weniger Alkohol zu trinken und niemals zu rauchen. In Zukunft werden ältere Menschen mehr darauf achten müssen, dass sie körperlich aktiv bleiben und enge soziale Bindungen pflegen. Auch länger arbeiten kann helfen, eine positive Lebenseinstellung zu bewahren. «Inzwischen ist klar belegt, dass Senioren, die über das offizielle Rentenalter hinaus aktiv bleiben, im Durchschnitt glücklicher und gesünder sind als jene, die dies nicht tun», stellen die Wirtschaftswissenschaftler Wolfgang Fengler und Johannes Köttl von der Weltbank fest.

122: Jeanne Calment, eine Französin, die das Rekordalter von 122 erreichte: „Jedes Alter hat sein Glück und seine Sorgen“.

Neue Perspektiven für die späteren Jahre

Doch irgendwann droht der Abschied aus der Arbeitswelt – ein wichtiger Moment im Leben vieler älterer Menschen. Wie wirkt sich der Ruhestand auf die Fähigkeit des Einzelnen aus, ein selbstbestimmtes Leben zu führen? «Unsere Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass die Menschen meist glücklicher sind, wenn sie in Rente gehen, und danach auch genauso gesund sind», meint Marcel Goldberg, Professor für Epidemiologie an der Medizinischen Fakultät Paris Ouest der Universität Versailles in Frankreich. «Rentner haben mehr Flexibilität und Freiheit im Leben, weniger Einschränkungen, und sie pflegen ein reiches und vielseitiges Sozialleben», fügt Goldberg an.

Die EIU-Umfrage zeigt, dass sich die Menschen am meisten darauf freuen, in späteren Jahren ihren Freizeitbeschäftigungen und Hobbys nachzugehen, über ihre Zeit frei zu verfügen und reisen zu können. Die Befragten in Frankreich freuen sich besonders darauf, reisen zu können (64 %) und sich ihren Lieblingsbeschäftigungen zu widmen (74 %), während in Österreich die meisten darauf hinzielen, selbstständig über ihre Zeit verfügen zu können (63 %).

Aufgrund der Verbindung zwischen Selbstbestimmung und Wohlbefinden müssen die drei Aspekte Autonomie, Kompetenz und soziale Bindungen erhalten und in ihrer Verflechtung gefördert werden. Auch wenn sich zunächst jeder selbst um die einzelnen Elemente kümmern muss, kann die Gesellschaft Selbstbestimmung als Schlüssel zum Wohlbefinden der Bevölkerung insgesamt propagieren.

Im Übrigen mag es sich lohnen, den Rat der Französin Jeanne Calment zu beherzigen, die das Rekordalter von 122 Jahren erreichte: «Jedes Alter hat sein Glück und seine Sorgen.»

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