Jährlich werden in Europa hunderte Milliarden Euro vererbt, was nicht selten zu erbitterten familiären Auseinandersetzungen führt. Erbrechtsspezialistin Katja Habermann spricht über häufige Fehler bei der Nachlassplanung und zeigt Strategien auf, um Konflikte zu vermeiden.

Obwohl das Erbrecht vieles gesetzlich regelt, führen Erbschaften häufig zu Streit. In der Schweiz sind laut Schätzungen rund 10 000 Familien betroffen, in Deutschland endet gemäss einer Allensbach-Umfrage fast jeder fünfte Erbfall im Streit und in Frankreich gar jeder dritte. Wie lässt sich das erklären?
Streit ums Erbe gab es schon immer. Und der gesellschaftliche Wandel macht das Erben noch komplizierter. Familiäre Bindungen werden schwächer und die Familienmitglieder sind häufiger über mehrere Länder verstreut. Zudem sind die Familienformen vielfältiger geworden – mehrere Ehen oder Patchwork-Konstellationen führen zu einer grösseren Anzahl potenzieller Erben. Gleichzeitig werden wir immer älter, was ebenfalls komplexere Nachlasssituationen mit sich bringt. Aber der Hauptgrund für Erbstreitigkeiten ist ganz banal: Sehr viele Menschen verdrängen die Nachlassplanung. In Deutschland beispielsweise haben laut einer aktuellen Studie nur 35 Prozent der Bevölkerung ein Testament verfasst.

Warum ist die Nachlassplanung so wichtig? Durch das Erbrecht ist doch das meiste klar geregelt.
Wenn Sie verheiratet sind, nur gemeinsame Kinder haben, sich alle gut verstehen und Ihr Vermögen überschaubar ist, dann können Sie auf ein Testament verzichten. Sobald Ihr Leben aber auch nur ein wenig davon abweicht – etwa wenn Sie schon einmal verheiratet waren oder kinderlos sind –, ist es ratsam, ein Testament zu erstellen.

Ein kinderloses Ehepaar hat doch keine direkten Erben. Warum braucht es denn da ein Testament?
Ein weitverbreiteter Irrtum bei kinderlosen Paaren ist tatsächlich: «Es gibt ja nur uns zwei, wer soll denn da sonst erben?» Aber so ist es häufig nicht. Gibt es keine Kinder, fällt ein Teil des Nachlasses an die Familie des Verstorbenen. In Deutschland erhält der Partner oder die Partnerin in der Regel nur drei Viertel des Erbes, der Rest geht an die eigene Verwandtschaft. Besitzt das Paar eine Immobilie, können Neffen und Nichten also plötzlich zu Miteigentümern werden. Deshalb ist ein Testament besonders wichtig für kinderlose Paare, aber auch für alleinstehende Menschen, die Personen ausserhalb der Familie begünstigen möchten.

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Richtig vererben ist ein Akt der finanziellen Selbstbestimmung.

Warum tun sich die Menschen so schwer mit dem Testament?
Weil wir lieber das Gefühl der Unsterblichkeit aufrechterhalten, als uns mit der eigenen Endlichkeit auseinanderzusetzen. Wir scheuen uns, innerfamiliäre Konflikte anzusprechen, was bei der Nachlassplanung durchaus nötig sein kann. Zudem hat unser Versäumnis keine persönlichen Konsequenzen. Den Schaden, den wir anrichten, erleben wir ja nicht mehr. Den haben dann die Erben.

Lässt sich sagen: Je grösser das Erbe, desto häufiger gibt es Streit?
Wo mehr zu holen ist, streitet man sich eher vor Gericht – schliesslich lohnt sich der Einsatz eher, denn so ein Verfahren kostet ja auch etwas. Aber Streit gibt’s überall, auch um ganz kleine Dinge. Eine Mandantin von mir reichte einmal eine kostspielige Klage wegen eines alten, abgenutzten Teeservices im Wert von maximal 20 Euro ein. Das zeigt: Eigentlich geht es bei Erbstreitigkeiten häufig gar nicht um Geld.

Worum denn?
Ich höre bei fast jeder Auseinandersetzung den Satz «Es geht mir nicht ums Geld, es geht mir nur ums Prinzip». Besonders unter Geschwistern geht es im Kern oft um alte, bisweilen unterschwellige Konflikte. Zum Beispiel um das Gefühl, von den Eltern benachteiligt oder weniger geliebt worden zu sein. Der Erbstreit ist die letzte Möglichkeit, diese Konflikte auszutragen.

Wie lassen sich solche Situationen vermeiden?
Jeder Mensch sollte selbst bestimmen, wie der eigene Nachlass geregelt werden soll. Am besten mit einem Testament. Genauso selbstverständlich sollte es sein, eine Vorsorgevollmacht und eine Patientenverfügung aufzusetzen.

Wann ist der richtige Zeitpunkt, ein Testament aufzusetzen? Mit 40?
Gestorben wird leider auch schon früher. Ich würde deshalb raten: Spätestens, wenn Kinder da sind oder Vermögen vorhanden ist. Idealerweise aber schon, sobald man volljährig ist. Je früher, desto besser.

Man sollte alle denkbaren Szenarien und Sterbefälle durchspielen, um sicherzustellen, dass der eigene Wille in jedem Fall klar geregelt ist.

Weshalb sollte ein kinderloser Mitzwanziger über seinen Nachlass nachdenken?
Das fragen mich viele junge Mandanten. Meine Antwort lautet dann: Angenommen, Sie sind Einzelkind und kommen gemeinsam mit Ihren Eltern bei einem Verkehrsunfall ums Leben. Ohne Testament geht Ihr Erbe an entfernte Verwandte – Menschen, die Sie vielleicht kaum kennen oder nicht einmal mögen. Mit einem Testament können Sie stattdessen festlegen, dass etwa Ihre Partnerin oder Ihr bester Freund berücksichtigt werden soll. Richtig vererben ist letztlich ein Akt der finanziellen Selbstbestimmung.

Muss ich dafür zu einem Anwalt oder einem Notar?
Nein, ein einfacher Notizzettel genügt. Es muss nicht einmal «Testament» draufstehen. Entscheidend ist, dass klar daraus hervorgeht, dass es sich um Ihren letzten Willen handelt. Etwa so: «Mein letzter Wille ist, dass meine Tochter meine Alleinerbin wird.» Unterschrift und Datum darunter – und das Testament ist gültig. Aber Achtung: Das Testament muss komplett von Hand geschrieben sein. Ein Ausdruck mit Unterschrift oder gar ein Text, den jemand anderes für Sie verfasst hat, ist formell ungültig.

Und wie verfasst man ein gutes Testament?
Ich empfehle immer ein Probesterben.

Wie bitte?
Man setzt sich hin und überlegt allein oder mit dem Partner: Was bedeutet dieses Testament, wenn diese oder jene Person zuerst stirbt? Und was, wenn es eine andere Reihenfolge gibt? Man sollte alle denkbaren Szenarien und Sterbefälle durchspielen, um sicherzustellen, dass der eigene Wille in jedem Fall klar geregelt ist. Und man sollte das Testament alle fünf Jahre wieder hervorholen und überprüfen, ob es so noch passt. Es gibt immer neue Irrungen und Wirrungen, die man noch nicht mitbedacht hat.

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Der richtige Zeitpunkt für ein Testament? Sobald man volljährig ist.

Sollte man das Testament mit den Erben besprechen?
Ja. So kann man seine Entscheidungen erklären, etwa weshalb ein Erbe mehr erhält als der andere. Ausserdem haben die Erben die Möglichkeit, Fragen zu stellen. Nach der Testamentseröffnung ist das nicht mehr möglich. Dann verschiebt sich das Problem in die nächste Generation und so kann die Erbschaft zu einem vergifteten Geschenk werden.

Wo soll man sein Testament aufbewahren?
Am sichersten hinterlegt man es beim Nachlassgericht. Daheim wird es oft nicht gefunden, weil es so gut versteckt wurde. Oder es geht zum Beispiel beim Umzug ins Altersheim verloren. Oder ein nicht begünstigter naher Angehöriger lässt es verschwinden.

Erleben Sie das oft, innerfamiliäre Erbschleicherei?
Öfter, als man denken würde. In einem Fall zog ein Neffe kurz vor dem Tod seines kranken Onkels bei ihm ein. Das Testament hatte der Onkel zu Hause aufbewahrt. Bei der Testamentseröffnung stellte sich dann überraschend heraus, dass jener Neffe zum Alleinerben bestimmt worden war, obwohl es mehrere Nichten und Neffen gab. Das hinterliess schon einen bitteren Beigeschmack.

Wie häufig kommt es vor, dass Eltern Ihre Kinder enterben wollen?
Nicht sehr oft, aber es kommt vor. Etwa, weil es keinen Kontakt mehr gibt. Oder es geht um Enttäuschungen, die für Aussenstehende kaum nachvollziehbar sind. Zum Beispiel darum, wer wen wann und warum nicht besucht hat.

Und dann kann man im Testament festlegen, dass ein Kind gar nichts bekommt?
Nein, so einfach ist das nicht. Den Pflichtteil kann man nicht streichen. Viele versuchen deshalb, noch zu Lebzeiten möglichst viel von ihrem Vermögen zu verschenken, damit am Ende möglichst wenig übrigbleibt für das Kind, das nichts bekommen soll. Damit muss man aber rechtzeitig anfangen, deutlich mehr als zehn Jahre vor dem eigenen Ableben. Sonst wird die Schenkung wieder angerechnet, zumindest teilweise. Es gibt allerdings auch europäische Länder, die keinen Pflichtteil kennen, wie etwa Grossbritannien. Wer dorthin zieht, kann unter Umständen tatsächlich dafür sorgen, dass ein Kind komplett leer ausgeht.

Bei Erbstreit geht es im Kern häufig nicht ums Geld, sondern ums Prinzip.

Abgesehen vom Pflichtteil: Welche anderen wesentlichen Unterschiede gibt’s in Europa?
Die Erbschaftssteuern divergieren stark. In Frankreich betragen sie bis zu 45 Prozent, in Deutschland sind Erbschaften bis zu 400 000 Euro für Kinder und 500 000 Euro für Ehepartner steuerfrei. Die Schweiz wiederum kennt für direkte Nachkommen und Ehepartner gar keine Erbschaftssteuer, dafür zahlt man hier jährlich eine Vermögenssteuer. Und dann gibt es noch nationale Besonderheiten. So erbt eine italienische Witwe weniger, wenn sie mehr als ein Kind geboren hat – eine klare Begünstigung der Nachkommensgeneration.

Wann braucht es eigentlich einen Erbvertrag?
Im Gegensatz zum Testament ist ein Erbvertrag eine verbindliche Vereinbarung zwischen mehreren Personen. Er ist besonders dann nötig, wenn komplexere Familienkonstellationen vorliegen, beispielsweise in Patchworkfamilien. Aber auch bei unverheirateten Paaren ist ein Erbvertrag sinnvoll: Die Partnerin bzw. der Partner bekommt sonst gar nichts, weil sie gemäss Erbrecht als «fremde Dritte» gelten. Erbverträge müssen übrigens notariell beurkundet werden und können nur von allen Beteiligten gemeinsam geändert werden.

Wann haben Sie sich zuletzt mit Ihrem eigenen Testament beschäftigt?
Gerade kürzlich. Ich habe zwei Kinder und der Jüngere sollte ursprünglich erst mit 25 auf seinen Anteil Zugriff erhalten. Ich wollte sicherstellen, dass er lange genug abgesichert ist, um auf eigenen Beinen stehen zu können. Mittlerweile ist er aber so weit, dass ich ihm den verantwortungsvollen Umgang mit dem Erbe bereits früher zutraue.

Belastet Sie das nicht, immer wieder an Ihren eigenen Tod denken zu müssen?
Nein. Ich empfinde es jedes Mal wie ein innerliches Aufräumen. Es ist wie alten Krempel wegbringen. Danach ist alles klarer.

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Katja Habermann

Katja Habermann (56) ist deutsche Fachanwältin für Erbrecht und Mitglied im Netzwerk Deutscher Erbrechtsexperten. Sie hat in ihrer Hamburger Kanzlei schon über tausend Erbschaftsfälle betreut.

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