Online-Plattformen und Trading-Apps haben den Zugang zu den Finanzmärkten revolutioniert – einfach, kostengünstig und für alle nutzbar. Besonders bei jungen Kleinanlegerinnen und Kleinanlegern haben sie einen wahren Aktien-Boom ausgelöst. Doch mittlerweile wächst die Kritik. HSG-Professor Marc Arnold beleuchtet die Chancen und die Risiken des digitalen Wertschriftenhandels.
Seit der Corona-Pandemie ist der Aktienhandel über Online-Banken und Trading-Apps förmlich explodiert: 2023 wurde der E-Brokerage-Markt allein in Europa auf über 5 Milliarden Euro geschätzt. Was macht diese neuen Angebote so attraktiv?
Sie machen das Traden so einfach und günstig wie noch nie. Anlegerinnen und Anleger haben dadurch die Möglichkeit, bereits mit kleinen Beträgen in verschiedene Märkte zu investieren. Zudem ist der digitale Wertschriftenhandel rund um die Uhr verfügbar, vergleichsweise preiswert und dank benutzerfreundlicher Trading-Apps leicht zugänglich.
Vor allem junge Menschen unter 30 haben dadurch das Traden für sich entdeckt. Das deutsche Aktieninstitut spricht bereits von der «Generation Aktie». Ist die Demokratisierung und Verjüngung des Wertschriftenhandels aus Ihrer Sicht zu begrüssen?
Grundsätzlich finde ich es gut, dass sich auch jüngere Menschen mit begrenztem Budget aktiv um ihre Ersparnisse kümmern und verschiedene Anlageklassen für den Vermögensaufbau und die Altersvorsorge nutzen, anstatt ihr Geld ausschliesslich auf ein Sparkonto zu legen. Dies gerade auch angesichts der aktuellen Zinslage und des Kaufkraftverlusts infolge der Inflation. Bedenklich finde ich jedoch das Anlageverhalten vieler neuer Online-Trader.
Inwiefern?
Viele von ihnen handeln mit hohem Risiko und auch in sehr kurzen Abständen. Beides kann zu erheblichen Verlusten führen. Studien belegen eindeutig: Je häufiger gehandelt wird, desto niedriger ist die Rendite. Hinzu kommt: Wer zu oft mit kleinen Beträgen handelt, dem fressen auch tiefe Gebühren schnell die Gewinne auf.

Wie zeigt sich diese Risikofreudigkeit der Neo-Anlegerinnen und -Anleger?
Sie bevorzugen stark schwankende Aktien und spekulative Anlageinstrumente wie Kryptos oder Derivate. Dabei hoffen sie auf sagenhafte Gewinne, inspiriert von Erfolgsstorys, die in den sozialen Medien verbreitet werden. Für viele dürfte das Traden auch eine Form von Entertainment sein.
Trading wird zur Unterhaltung?
Genau. Es fühlt sich an wie im Spielcasino. Und je stärker eine Aktie schwankt, desto grösser ist der Nervenkitzel. Das mag in Ordnung sein, solange man dafür nur etwas «Spielgeld» einsetzt. Aber wenn unerfahrene Kleinanleger ihre begrenzten finanziellen Mittel auf diese Weise «investieren», kann das leicht zu ernüchternden finanziellen Konsequenzen führen. Hinzu kommt, dass der langfristige Effekt der Tradingkosten oft massiv unterschätzt wird.
Die Transaktionsgebühren sind bei den Neo-Brokern doch historisch tief oder teilweise sogar kostenlos?
Die Preisstruktur ist sehr intransparent und oft gibt es versteckte Gebühren. Ausserdem gilt auch bei tiefen Kosten der bereits erwähnte Grundsatz: Wer zu oft tradet, dem fressen die Gebühren die Gewinne auf. Angenommen, die Gebühren liegen bei nur 0,1 Prozent des Volumens, und jemand macht 100 Trades pro Jahr, dann machen die Kosten bereits zehn Prozent des jährlichen Tradingvolumens aus. Nach fünf Jahren wäre somit bereits die Hälfte des eingesetzten Kapitals verloren.
Kritiker wie die Investorenlegende Warren Buffet monieren, dass Neo-Broker ihre Kundinnen und Kunden aktiv zum Zocken verleiten. Zu Recht?
Ja, denn es besteht ein eklatanter Interessenkonflikt. Das Geschäftsmodell vieler Online-Broker basiert darauf, dass ihre Kunden möglichst oft und möglichst riskant traden. Denn sie verdienen an jedem Trade, oft gleich doppelt; einerseits durch die Handelsgebühren, die die Kunden bezahlen, und andererseits durch Rückvergütungen der Handelsplattformen, an die sie die Aufträge weiterleiten. Deshalb schaffen sie mit verschiedenen Methoden Anreize, die exzessives Traden begünstigen.
Wie funktionieren solche Anreize konkret?
Es beginnt beim Design: Viele Plattformen setzen auf «Gamefication», also auf glücksspielähnliche Features, welche die Anleger zum Traden motivieren. So genügt etwa ein «Wisch» über den Bildschirm und die Aktie ist gekauft. Wer einen guten Trade gemacht hat, der bekommt eine Belohnung in Form von Geldregen auf dem Bildschirm und steigt ins nächste Level auf. Zusätzlich animieren KI-generierte Pop-up-Nachrichten zum Traden – und dies äusserst wirksam.
Wie kann KI das Anlageverhalten beeinflussen?
Die Algorithmen der Neo-Broker wissen ganz genau, wie und wann jemand tradet. Und sie versenden zum richtigen Zeitpunkt die richtigen Informationen, um das Verhalten der Anlegerinnen und Anleger zu ihren Gunsten zu beeinflussen. Wir haben in einer internationalen Studie das Verhalten von über 240 000 Kundinnen und Kunden eines Online-Brokers ausgewertet und dort wurde deutlich: Wer Push-Meldungen vom Broker erhält, tradet um ein Vielfaches häufiger. Gleichzeitig gehen diese Kunden auch ein signifikant höheres Risiko ein. Die Anlegerinnen und Anleger werden also aktiv zu einer Art Glücksspiel verleitet. Das ist bedenklich und hat auch sozialpolitische Konsequenzen.
Inwiefern hat das Konsequenzen für die Gesellschaft?
Indem sie die Kosten dafür trägt. Junge Menschen werden dazu verleitet, ihre gesamten Ersparnisse zu verzocken. Zudem birgt Glücksspiel ein grosses Suchtpotenzial. Die Zahl der Tradingsüchtigen steigt stark an und immer mehr Menschen müssen sich deshalb in Kliniken behandeln lassen. In der Schweiz zum Beispiel hat sich diese Zahl in den letzten fünf Jahren verdoppelt. Aber das Image des Online-Tradings scheint bisher nicht darunter zu leiden und es gilt im Gegensatz zum Glücksspiel immer noch als seriös. Für die Süchtigen gibt es darum keinen Schutz.
Braucht es mehr Reglementierung?
Ich bin kein Anhänger von Reglementierung und schätze den Nutzen als gering ein. Das zeigt sich zum Beispiel bei Sportwetten. Wenn man im Inland reglementiert, dann weichen Nutzer halt auf ausländische Anbieter aus. Ich würde eher auf Transparenz und Information setzen. Die Menschen müssen sich bewusst sein, was sie tun und wie sie vernünftig investieren können. Hier hätten die Online-Broker selbst ein enormes Potenzial.
Woran denken Sie?
Die Broker könnten ihr umfangreiches Wissen über das Tradingverhalten ihrer Kundinnen und Kunden nutzen, um ihnen aktiv zu besseren Entscheidungen zu verhelfen. Durch automatisierte Feedbacks könnte man sie beispielsweise frühzeitig auf Fehler hinweisen, vor zu hohen Risiken warnen oder erste Anzeichen von Tradingsucht aufzeigen. Aber solange der erwähnte Interessenkonflikt besteht, wird dieses Potenzial nicht im Interesse der Anlegerinnen und Anleger genutzt: Statt sie zu warnen, werden sie zu weiteren Trades animiert.
Wie können sich die Anlegerinnen und Anleger selber schützen?
Indem sie sich an seriöse Anbieter wenden, hinter denen eine angesehene Bank steht. Und indem sie alle Push-Mitteilungen und Pop-ups einfach ausschalten. Denn weder der Neo-Broker noch die KI verfügen effektiv über Zusatzinformationen, die fürs Trading hilfreich sind. Die Finanzmärkte sind so kompetitiv und so schnell, dass solche Informationen bereits in den Kursen abgebildet sind. Wer langfristig ein Vermögen aufbauen möchte, um auch im Alter finanziell selbstbestimmt zu leben, sollte eine Anlagestrategie wählen, die zum aktuellen Alter, zu den finanziellen Verhältnissen und zur individuellen Risikobereitschaft passt. Daran sollte man dann konsequent festhalten und sich nicht beirren lassen.

Marc Arnold
Marc Arnold ist Professor für Corporate Finance an der Universität St. Gallen. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören unter anderem Kreditrisiken und Derivate sowie Finanzintermediäre. Gemeinsam mit Matthias Pelster und Marti Subrahmanyam hat er in der Studie «Attention Triggers and Investors’ Risk Taking» (2022) den Einfluss von Push-Nachrichten auf das Anleger- und Risikoverhalten untersucht.