Wir leben zwar immer länger, aber unsere Jugend verlängert sich nicht. Die Jahre zwischen 20 und 30 bleiben prägend für unser selbstbestimmtes Leben, sagt die US-amerikanische Psychologin und Erfolgsautorin Meg Jay. Ihr Appell an die Twens: «Nehmt euer Leben in die eigenen Hände.»

Die durchschnittliche Lebenserwartung weltweit ist seit 1960 um über 20 Jahre gestiegen. Da scheint es doch eigentlich logisch, dass uns mehr Zeit bleibt, uns zu entwickeln und erwachsen zu werden. Ist 30 das neue 20?
Nein. Das ist ein weitverbreiteter Irrtum, nicht nur bei den Jungen, sondern auch unter Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die von einer «verlängerten Pubertät» sprechen und das Erwachsenwerden als Prozess zwischen 18 und 29 interpretieren. Aber auch von den Medien, die für die Twens so lächerliche Ausdrücke wie «Kidults» (Kind-Erwachsene) erfunden haben. Das ist meiner Meinung nach eine Trivialisierung einer enorm wichtigen Lebensphase, die junge Menschen in Schwierigkeiten bringen kann.

Aber die Langlebigkeitsrevolution ist eine Tatsache. In Ländern wie der Schweiz, Deutschland oder Frankreich werden viele Menschen sogar bereits weit über 80. Da genügt es doch, wenn mit 30 der Ernst des Lebens beginnt.
Das höhere Alter bedeutet nicht, dass es keine Rolle mehr spielt, was wir in unseren Zwanzigern machen. Dank der modernen Medizin und Wissenschaft verlängern wir zwar unsere Lebensdauer, aber biologisch sind wir deswegen keine neuen Wesen. Tatsache ist: Die Jahre zwischen 20 und 30 sind das prägendste Jahrzehnt für ein selbstbestimmtes Leben.

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80 Prozent der wichtigsten Entscheidungen in unserem Leben treffen wir vor unserem 35. Geburtstag.

Inwiefern?
Unsere Persönlichkeit verändert sich zwischen 20 und 30 mehr als irgendwann sonst im Verlauf des Lebens. 80 Prozent der wichtigsten Entscheidungen in unserem Leben treffen wir vor unserem 35. Geburtstag. Viele Menschen – in den USA ist es mehr als die Hälfte – sind mit 30 bereits verheiratet oder schon mit ihrem zukünftigen Partner liiert. Trotz Fortschritten der Fruchtbarkeitsmedizin werden Frauen in Europa und in den USA im Durchschnitt noch vor 30 das erste Mal Mutter. Zudem ist es erwiesen, dass die ersten zehn Jahre des Berufslebens entscheidend für die Karriere und das spätere Einkommensniveau sind. Und schliesslich sind die Zwanziger auch für die Entwicklung unseres Gehirns von grosser Bedeutung.

Ist unser Gehirn nicht bereits nach der Pubertät ausgereift?
Inzwischen wissen wir, dass sich das Gehirn bis Ende 20 noch in bedeutendem Ausmass entwickelt, indem eine Systematisierung der Erfahrungen stattfindet. Die Verhaltensmuster, die wir uns in dieser Phase aneignen, werden uns ein Leben lang begleiten. Nach dem Motto «Use it or lose it» werden die neuen Verbindungen des Frontallappens, die wir regelmässig nutzen, erhalten und beschleunigt; die Verbindungen, die wir nicht nutzen, verkümmern hingegen. In der Neurowissenschaft wird dies als «Survival of the busiest» – also «Überleben der Fleissigsten» – bezeichnet. Darum ist es so wichtig, diese Jahre gut zu nutzen und bewusst Erfahrungen zu sammeln, anstatt damit zu warten, bis wir 30 sind.

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Die Jahre zwischen 20 und 30 sind das prägendste Jahrzehnt für ein selbstbestimmtes Leben.

Was hindert die Jungen denn heute daran, das eigene Leben in die Hände zu nehmen?
Zum einen existiert eine gewisse Sorglosigkeit aufgrund der weitverbreiteten Illusion, dass junge Menschen heute alles auch noch später machen können. Zum anderen gibt es viel Unsicherheit und Ängste, denn die Zeit zwischen 20 und 30 ist nicht einfach. Es ist eine Phase im Leben, in der alles total unsicher ist. Wir wissen nicht, mit wem wir unser Leben verbringen, wo wir einmal leben und welchen Beruf wir ausüben werden. Wir wissen nicht, ob wir imstande sein werden, unsere Rechnungen zu bezahlen und ein sorgloses Leben zu führen. Das führt dazu, dass sich viele Twens wie gelähmt fühlen und darum keine Herausforderungen annehmen.

Was raten Sie diesen Twens?
Die Kunst ist, sich nicht von dem lähmen zu lassen, was schlecht läuft, sondern sich seine Hoffnungen und Träume zu vergegenwärtigen und zu überlegen: Was kann ich jetzt dazu beitragen, dass sich diese realisieren lassen? Das finden wir nicht heraus, indem wir uns nur treiben lassen und über die Liebe und das Leben philosophieren. Dazu müssen wir aktive Entscheidungen fällen und unser Leben bewusst gestalten. Es geht darum, sich ein Identitätskapital aufzubauen und in Tätigkeiten und Dinge zu investieren, die uns für die Zukunft weiterbringen.

Werden in dieser Lebensphase auch wegweisende Weichen für unsere finanzielle Selbstbestimmung gestellt?
Absolut. Da wir uns in dieser Lebensphase diejenigen Gewohnheiten aneignen, die uns ein Leben lang begleiten, sind die Zwanziger der richtige Zeitpunkt, um zu üben, mit einem bestimmten Budget auszukommen und etwas für die Zukunft auf die Seite zu legen. Man kann ganz generell sagen: Unsere Lernkurve in den Zwanzigern beeinflusst unsere finanzielle Selbstbestimmung in den Dreissigern und darüber hinaus.

Unsere Lernkurve in den Zwanzigern beeinflusst unsere finanzielle Selbstbestimmung in den Dreissigern und darüber hinaus.

Die aktuellen Twens stammen aus der Generation Z. Werden sie wieder schneller erwachsen als die Generationen vor ihnen?
Ja und nein. Einerseits sind sie realistischer, aktiver und leistungswilliger, wohl infolge der wirtschaftlichen Krisen, die sie schon erlebt haben. Auf der anderen Seite gibt es viele, die zum Beispiel durch den Klimawandel, die Pandemie oder den Krieg stark verunsichert sind. Sie fühlen sich ohnmächtig und glauben, dass es mit der Welt nicht mehr gut kommt, egal was sie auch tun. Ihnen fällt es schwer, ihre Zeit gut zu nutzen und die richtigen Weichen für ihre Zukunft zu stellen.

Sie selber gehören zur Generation X und waren in den 1990er-Jahren ein Twen. Hätten Sie mit dem heutigen Wissensstand damals etwas anders gemacht?
Die Generation X war die erste Generation, die diese vermeintlich «verlängerte Pubertät» zu leben begann. Ich war zwar nicht untätig, sondern habe verschiedene Jobs gemacht und mir berufliches Identitätskapital angeeignet. Aber ich glaubte damals, mehr Zeit für die Partnerwahl und die Familienplanung zu haben, und habe eigentlich zu spät damit begonnen. Glücklicherweise habe ich noch zwei wunderbare Töchter bekommen.

Cover picture: © Netflix

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Meg Jay

Meg Jay, 53, lehrt als Professorin an der University of Virginia und unterhält eine private Praxis für Psychotherapie in Charlottesville. Ihre Artikel erscheinen regelmässig u. a. in der New York Times, der Los Angeles Times oder USA Today. Ihr Buchdebüt The Defining Decade (2012) war in den USA ein Bestseller und ist 2021 bei Hachette Books in einer aktualisierten Neuauflage erschienen. Ihr TED Talk zum Thema gehört mit über 10 Millionen Aufrufen zu den erfolgreichsten des Formats.

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