Die Sozialwissenschaftlerin Elisabeth Michel-Alder ist eine vehemente Verfechterin des flexiblen Rentenalters. Sie setzt sich dafür ein, dass wir von fixen Biografiemustern und Zuschreibungen aufgrund des Alters wegkommen.
Die Fixierung eines generellen Rentenalters ist aus Ihrer Sicht nicht mehr zeitgemäss. Wie sieht denn ein ideales System aus?
Massgeschneidert! Jede Person sollte dann pensioniert werden, wenn es für sie und ihren Arbeitgeber passt. Ich bin für Selbstbestimmung und Flexibilität anstelle einer aus der Zeit gefallenen Altersguillotine. Ein flexibleres System käme der ganzen Gesellschaft zugute. Alles weist darauf hin, dass Menschen, die dank Erwerbsarbeit oder auch Freiwilligeneinsatz länger gesellschaftlich integriert und gefordert sind, auch länger gesund und zufrieden bleiben. Es ist kein Privileg, nicht mehr arbeiten zu müssen. Privileg ist, gebraucht und gefordert zu werden. Selbstverständlich gibt es Ausnahmen. Wer krank ist, im Job todunglücklich oder grössere Aufgaben hat, deren er sich privat dringend annehmen will oder muss, soll die Möglichkeit haben, frühzeitig in Rente zu gehen.
Im Vergleich zu den EU- und EFTA-Ländern ist die Erwerbsquote der über 50-Jährigen in der Schweiz hoch. Gleichzeitig liest man von älteren Arbeitskräften, die auf dem Arbeitsmarkt keine Chance mehr haben. Wie nehmen Sie die Situation wahr?
Das Alter ist auf dem Arbeitsmarkt bei reiferen Stellensuchenden ein Faktor, der Türen verschliessen kann. Das ist Tatsache, aber wir können Abhilfe schaffen, in dem wir bei Stellenbesetzungen die Leistungsfähigkeit gewichten und nicht den Jahrgang. Oder wir nehmen uns ein Beispiel an den Norwegern, die das Pensionsalter mit der durchschnittlichen Lebenserwartung verknüpft haben. Wenn die Norweger künftig einmal eine Lebenserwartung von 90 erreichen, wird ihr Rentenalter bei rund 78 Jahren liegen. Diese Umstellung hat bereits erste Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt: Investitionen in ältere Arbeitskräfte lohnen sich und es werden vermehrt wieder über 50-Jährige eingestellt.
Wie verändert das längere Erwerbsleben die klassischen Biografiemuster?
Ein längeres Erwerbsleben für alle bedeutet, dass die bisherigen drei klassischen Lebensphasen «Schule und Ausbildung», «Erwerbstätigkeit» und «Pensionierung» zum Auslaufmodell werden. Neu werden wir in jeder Lebensphase Ausbildung, Erwerbstätigkeit aber auch Regenerationsphasen haben. Das ist Voraussetzung für die längere Erwerbstätigkeit.
Jeder Zweite will gar nicht bis zum regulären Pensionsalter arbeiten, geschweige denn länger. Wie kann man Leute motiviert halten, die innerlich schon in Rente gegangen sind?
Wenn jemand mit 55 abgelöscht ist, dann hat der Arbeitgeber Fehler gemacht. Langjährigkeit, banale Tätigkeiten und Routine sind oft Faktoren, die Arbeitnehmer in die Resignation führen. Wenn Entwicklungsmöglichkeiten fehlen, sehen Arbeitnehmer für sich oft keine Perspektive mehr und machen den Schirm zu. Ich glaube daher, dass wir neben der vorhin erwähnten neuen Einteilung der Lebensphasen auch an die Arbeitsplatzqualität höhere Ansprüche stellen müssen. Die Erwerbstätigen sollten am Arbeitsplatz gefordert sein und lernen können. Darüber hinaus müssen sie kompetent geführt werden und einen Sinn in ihrer Arbeit sehen.
Man könnte auch umgekehrt fragen: Warum will jeder zweite Schweizer länger arbeiten?
Das soziale Umfeld, das ein Arbeitsplatz darstellt, spielt eine wichtige Rolle. In Zeiten, in denen Nachbarschaft, Religion und Vereinsleben an Wichtigkeit verloren haben und auch die Familienbande loser geworden sind, ist der Arbeitsplatz ein wichtiger Ort gesellschaftlicher Integration, um Zugehörigkeit, Wertschätzung zu erleben. Darüber hinaus gibt es auch immer mehr Menschen, vor allem Frauen, die aus finanziellen Gründen im Rentenalter arbeiten müssen oder wollen. Es ist darum wichtig, dass es auch für Menschen über 65 Jobs gibt.
Um sich im Job selbstbestimmter zu fühlen, erwarten Mitarbeitende von Arbeitgebern Flexibilität punkto Home Office, Sabbaticals, Teilzeitmodellen und Weiterbildungen. Hier sind die Arbeitgeber gefordert. Chance oder Bürde?
Studien zeigen, dass die Zufriedenheit von Arbeitnehmern, die Gestaltungsfreiraum haben, höher ist. Wobei ich in diesem Kontext Inhalte wichtiger finde als zeitliche Rahmenbedingungen. Es ist im Interesse der Unternehmen, ihren Mitarbeitenden Anforderungen zu stellen, die sie nah an ihre optimale Leistungsfähigkeit heranführen und auch Regenerationsphasen beinhalten. In Unternehmen mit Entwicklungsperspektiven und Förderung für die Mitarbeitenden über alle Lebensphasen hinweg sind Leistung und Motivation höher.
Sie sprechen nicht über Ihr Alter. Gleichzeitig setzen Sie sich dafür ein, dass Stereotype, die man mit dem Alter verbindet, abgebaut werden. Wäre das nicht Grund genug, auch in Bezug auf Ihre Person Farbe zu bekennen?
Solange wir nicht in einer stereotypenärmeren Gesellschaft leben, plädiere ich für Verzicht auf Angaben zu kultureller Herkunft, Alter und zum Teil Geschlecht. Wir müssen von Zuschreibungen wegkommen und Sachverhalte fokussieren. Der Jahrgang ist nicht aussagekräftig. Ein Beispiel: Wenn ich an meine Klassenzusammenkunft gehe, dann befinde ich mich gefühlt mit meiner Tochter und meiner Mutter im gleichen Raum. Die Leute altern halt einfach sehr verschieden.
Ich muss die Frage trotzdem stellen. Wie lange werden Sie noch arbeiten?
Ich weiss es nicht. Fakt ist: Bei mir haben sich nicht 1000 Dinge aufgestaut, die ich nachholen muss. Ich habe alles, was sich andere vielleicht für die Pensionierung aufsparen, bereits während meines Erwerbslebens gemacht. Der Ruhestand ist eine neuere Erfindung der Menschheitsgeschichte. Es gibt Arbeitstage, an denen ich abends glücklicher bin als in den Ferien. Und jetzt erscheint im April nächsten Jahres unter dem Titel «Länger leben – anders arbeiten» erst einmal noch ein weiteres Buch von mir. So schnell gehe ich daher noch nicht in Rente (lacht).
Elisabeth Michel-Alder
Sozialwissenschaftlerin
Kämpferin für ein flexibles Rentenalter
Elisabeth Michel-Alder ist Sozialwissenschaftlerin, Unternehmensberaterin und Initiantin des Arbeitgeber-Netzwerks «Silberfuchs», das Generationenfragen zum Thema macht. Im April 2018 erscheint ihr Buch «Länger leben – anders arbeiten», in dem es um neue Biografiemuster, andere berufliche Laufbahnen, Lernen und fortschrittliche Arbeitsumgebungen geht.