Das «asiatische Jahrhundert» hat längst begonnen und wird im Westen falsch wahrgenommen, sagt der indisch-amerikanische Politikwissenschaftler Parag Khanna. Ein Gespräch über die kulturelle Vielfalt Asiens und die Frage der Selbstbestimmung Europas.
Parag Khanna, in Ihrem Bestseller «Unsere asiatische Zukunft» beschreiben Sie eine epochale Machtverschiebung und eine neue Weltordnung. Zumindest hier in Europa spürt man diese erst zaghaft – woran machen Sie Ihren Befund fest?
Tatsächlich glauben viele Menschen im Westen nach wie vor, im Epizentrum der Welt zu leben. Aber die demografischen und ökonomischen Indikatoren zeigen: Wir leben bereits in einer asiatischen Welt. 60 Prozent der Weltbevölkerung wohnen hier, über die Hälfte der weltweiten Wirtschaftsleistung wird in Asien erbracht. Auch im globalen Handel, beim technologischen Fortschritt oder bei ausländischen Direktinvestitionen steht der Kontinent an der Spitze oder er hat stark aufgeholt. Hinzu kommt: Auch der Westen wird zunehmend asiatischer.
Inwiefern?
Denken Sie an den wachsenden ökonomischen Einfluss von asiatischen Migranten: In den USA besitzen die Amerikaner mit asiatischer Herkunft ein Viertel aller Unternehmen und sie haben ein höheres Durchschnittseinkommen als die weisse Bevölkerung. Auch in der Politik in Europa zeigt sich der Wandel – verschiedene Politiker haben mittlerweile asiatische Wurzeln. Und wir können auch über Soft Power reden, die asiatische Küche beispielsweise ist nicht mehr wegzudenken aus westlichen Innenstädten, Kochbuchregalen und TV-Sendungen.
Müsste Ihr Buch nicht eher «Unsere chinesische Zukunft» heissen?
Asien ist mehr als China. Diese Fehlwahrnehmung war der Hauptgrund, mein aktuelles Buch zu schreiben. Neben den 1,4 Milliarden Chinesen leben dort noch rund 3,5 Milliarden andere Menschen und die kleineren asiatischen Länder werden immer selbstbestimmter. Wir erleben einen kollektiven ökonomischen Aufstieg der Megaregion, die vierte Welle des Booms erfasst gerade die Länder in Süd- und Südostasien, darunter Thailand, Singapur oder Indonesien. Wir sollten Asien als ein aufstrebendes System betrachten, das intensive Handelsbeziehungen pflegt und heute so stark ist, dass sich der Westen fragen muss: Wollen wir dort eine Rolle spielen oder nicht?
Wie?
Wenn Europa oder Amerika etwas erreichen wollen in diesem Jahrhundert, müssen sie ihre Relevanz für Asien unter Beweis stellen. Sie müssen hier präsent sein und die Herzen und die Konsummärkte vor Ort gewinnen, sonst erübrigen sie sich. Interessanterweise sehen das die USA und Europa ziemlich anders.
Nämlich?
Im Schatten des Handelskriegs zwischen China und den USA hat Europa nicht nur ein fast doppelt so grosses Handelsvolumen mit China aufgebaut, sondern auch viele Freihandelsabkommen abgeschlossen, unter anderem mit Japan, Südkorea oder neu mit Vietnam. Mit Joe Biden als Präsident wird diese Tendenz wohl wieder etwas abnehmen.
Welche weiteren Trümpfe hat Europa?
Der Kontinent hat einen technologischen Vorsprung sowie gute, historisch gewachsene politische Beziehungen zu Asien und er ist durch seine Lage geografisch besser an Asien angebunden als die USA, was sich dank der Neuen Seidenstrasse noch weiter verbessert.
Was bedeutet diese Entwicklung für die Selbstbestimmung des Westens? Droht uns Abhängigkeit von den asiatischen Powerländern?
Nein. Asien wird den Westen nie ersetzen. Es läuft vielmehr auf eine multipolare Welt, auf eine Mischung von Ost und West hinaus. Gerne spreche ich von historischen Schichten, die wie bei einem Gemälde aufgetragen werden. War das 19. Jahrhundert europäisch und das 20. Jahrhundert amerikanisch, so kommen jetzt die asiatischen Farben dazu und sie leuchten hell.
Trotzdem fürchtet man sich in Europa bisweilen vor dem asiatischen Jahrhundert. Können Sie das verstehen?
Ich spüre diese Skepsis und Angst seit vielen Jahren. Ein Teil dieser Skepsis lässt sich auf mangelndes Wissen zurückführen – je mehr man über Asien weiss, desto weniger bedrohlich wirkt es. Vor allem aber mangelt es Europa an Selbstbewusstsein. Asien bietet enorme Chancen – gerade für Europa. Selbstbestimmung bedeutet nicht Abschottung, sondern Zusammenarbeit mit Asien.
Eine zentrale westliche Sorge betrifft die liberale Demokratie: Ist diese durch die Asiatisierung bedroht?
Auch hier fixiert man sich auf Chinas System und vergisst Indien, Japan, Südkorea oder die Philippinen: In Asien leben heute mehr Leute in demokratischen Staaten als anderswo. Errungenschaften wie Unternehmertum, Kapitalismus, Demokratie und Individualismus werden bestehen bleiben. Aber es gibt einen Hang zur Technokratie – zu starken Führungsfiguren und zum professionellen Management des Staates. Generell lässt sich aber auch feststellen: Es findet derzeit nicht nur eine Asiatisierung der Welt, sondern auch eine Europäisierung von Asien statt.
Können Sie das ausführen?
Viele Länder streben nach europäischen Vorbildern, etwa in den Bereichen Wohlfahrtsstaat, Bildungssystem oder Forschung – doch sie nennen es dann nicht Europäisierung, sondern eben Modernisierung oder steigenden Materialismus. Europa ist heute in Asien eine viel stärkere Referenz als die USA.
Führt diese Modernisierung in den traditionell kollektivistischen Gesellschaften auch zu mehr Selbstbestimmung und Individualisierung?
Ja und nein. Der neue asiatische Materialismus ist sehr schön zu sehen in Crazy Rich Asians, dem Hollywood-Film über superreiche Singapurer. Neben all den Autos, Jachten und Privatjets fällt auf, dass die junge Generation im Film ziemlich unabhängig ist und eigene Ziele verfolgt. Ich denke, das trifft auf viele, auch weniger wohlhabende Schichten in Asien zu. Gleichzeitig haben asiatische Kulturen nach wie vor einen multigenerationellen Kern; die Jungen haben gegenüber ihren Eltern und Grosseltern viel Verantwortung und der Gemeinsinn zählt auch heute noch viel.
Folgt man Ihrer Analyse, so wird sich trotz tektonischer Machtverschiebung alles zum Guten wenden. Woher nehmen Sie diesen Optimismus?
Ich nenne das einen zufälligen Optimismus. Nicht die Vernunft oder gegenseitige Sympathie, sondern das Eigeninteresse wird dazu führen, dass sich die einzelnen Staaten immer enger vernetzen. Und diese zunehmende Konnektivität macht das gesamte Weltsystem – quasi als unbeabsichtigte Folge davon – widerstandsfähiger. Wir werden zur globalen Schicksalsgemeinschaft.
Parag Khanna
Parag Khanna (43) ist ein indisch-amerikanischer Politologe und Strategieberater, der laut «Esquire» zu den «75 einflussreichsten Menschen des 21. Jahrhunderts» gehört. Er ist CNN-Experte für Globalisierung und Geopolitik und veröffentlicht regelmässig Artikel und Essays, u. a. in der «New York Times», der «Washington Post» und der «Financial Times». Er war u. a. für die amerikanische Denkfabrik Brookings-Institut und das Weltwirtschaftsforum tätig, ausserdem arbeitete er als aussenpolitischer Berater der Präsidentschaftskampagne von Barack Obama. Die Bücher des gebürtigen Inders wurden in mehr als 20 Sprachen übersetzt, zuletzt erschienen ist «Unsere asiatische Zukunft» (Rowohlt). Khanna kam in Indien zur Welt, wuchs in den Vereinigten Arabischen Emiraten auf und studierte in den USA, England und Deutschland. Seit 2012 lebt er mit seiner Frau und seinen zwei Kindern in Singapur.