Deutschlands Start-up-Pionierin Verena Pausder präsentiert in ihrem aktuellen Buch die Vision für ein neues Land und eine Kultur des Mutes. Das Fundament der Modernisierung bildet die digitale Bildung.
Warum schreibt eine der erfolgreichsten Digital-Unternehmerinnen Deutschlands ein politisches Buch?
Weil ich mich selber in die Pflicht nehmen will. Wir erleben gerade den Übergang vom Industrie- zum Digitalkapitalismus und es wäre unredlich, so zu tun, als könne man ihn aussitzen. Wir sind auf bestem Weg, zum Naherholungsgebiet für China zu werden. Wir brauchen eine Vision für ein neues Land – und eine solche habe ich in meinem Buch zu formulieren versucht.
Wieso diese Dringlichkeit? Immerhin gehört Deutschland zu den reichsten Ländern der Welt mit hohem Bruttosozialprodukt und niedriger Arbeitslosigkeit.
Noch geht es uns gut. Aber es ist ein Konstrukt auf Zeit und den Preis dafür bezahlen die nächsten Generationen. Sei es die Staatsüberschuldung, das Rentensystem, die Klimaerwärmung oder die digitale Rückständigkeit: Ich möchte nicht meinen Kindern erklären müssen, dass wir dies alles wohlwissentlich in Kauf genommen und nichts dagegen getan haben. Corona führt uns unser Digital-Defizit gerade schmerzlich vor Augen. Reformen genügen da nicht. Es braucht Disruption – wir müssen das wirtschaftliche und politische Leben radikal ändern, damit wir zukunftsfähig bleiben. Dabei trägt die Wirtschaft eine Mitverantwortung.
Beschleunigt Corona die Modernisierung oder schürt sie eher die Angst vor dem Fortschritt?
Die Pandemie hat zu einer Schockstarre geführt. Es ist die Zeit des starken Staates. Und der Einzelne fragt sich: Was kann ich schon bewegen? Davon müssen wir uns wieder freimachen. Wir sind nicht fremdbestimmt. Wir haben alle eine Verantwortung, die Zukunft mitzugestalten.
Wir brauchen also mehr Mut zur Selbstbestimmung?
Genau. Wobei mit Selbstbestimmung nicht Selbstverwirklichung gemeint ist. Wir sollten wegkommen von diesem «Ich-Zuerst-Denken», bei dem es nur um das eigene Vorankommen geht, und wieder mehr an das Gemeinwohl denken. Wir müssen in Europa raus aus der Komfortzone, runter vom Sofa. Jetzt gilt es, mutig zu sein. Der Kern des neuen Landes ist ein neuer Unternehmergeist. Es braucht wieder Einsatzbereitschaft, Kreativität und Risikobereitschaft: Man wagt etwas, bevor man urteilt. Man probiert etwas, bevor man es schlechtredet.
Die digitale Bildung bezeichnen Sie als Fundament des neuen Landes. Wird diese dank Corona zur Realität?
Es wird gerade viel darüber geredet, doch ich befürchte, dass wir uns wieder schlafen legen, sobald es den Impfstoff gibt und die Schulen wieder sicher sind. Eine aktuelle UN-Studie sagt: Zwei von drei Schülern werden in Jobs arbeiten, die wir heute noch gar nicht kennen. Aber aktuell bilden wir unsere Jugend nicht für diese Zukunftsjobs aus, sondern für Jobs, die durch die Digitalisierung wegfallen. Wir sollten uns die Frage stellen: Wie passen wir unser Bildungssystem an die Herausforderungen des Arbeitsmarktes von morgen an? Sollen unsere Kinder und unsere Enkel nur Profianwender von amerikanischen oder chinesischen Erfindungen sein oder sollen sie selbst in der Lage sein, Neues zu gestalten und zu erfinden?
Und wie erlernen die Schüler diese Zukunftskompetenzen?
Indem wir uns vom bisherigen Bildungscurriculum verabschieden und mehr Freiraum geben für Neues: für projektbasierten, fächerübergreifenden Unterricht mit Einbezug der neuen Technologien. Coding ist das Latein der Zukunft. Programmieren muss im Schulalltag verankert werden. Ebenso Robotics, Game Design oder digitale Fotografie. Und ganz wichtig: Diese Kompetenzen müssen so vermittelt werden, dass sich auch die Mädchen angesprochen fühlen.
Was bedeutet das für die Erziehung? Sie sind Mutter von drei Kindern: Gibt es einen Masterplan für den richtigen Umgang mit digitalen Geräten?
Der Schlüssel ist, digitalen Konsum von digitalem Gestalten zu trennen. Das eine gilt es klar zu regeln und das andere zu fördern. Bei uns zu Hause bedeutet das: Digitaler Konsum ist streng limitiert per Bildschirmzeit und ab 20 Uhr sind die Geräte abzugeben. Aber wenn die Kids ein Video schneiden, einen Stop-Motion-Film drehen oder programmieren wollen, dann gibt es kein Zeitlimit. Ich würde ja auch nie das Legospielen zeitlich limitieren.
Auch in der Wirtschaft fordern Sie ein Umdenken. Es brauche überall eine Unternehmenskultur, wie sie die Start-ups vorleben.
Ja, wobei ich mit einem Missverständnis zum Thema «New Work» aufräumen möchte. Wir müssen wegkommen von diesem Bild, bei dem jeder Millennial ins Büro kommen und gehen kann, wann er will. Und bei dem ihn ein Pingpongtisch, eine Hängematte und eine Schale mit frischem Obst erwarten. Die Start-up-Szene ist nicht deswegen so erfolgreich geworden, sondern weil dort hart gearbeitet wird und die Eigenmotivation der Mitarbeitenden gefördert wird.
Also mehr Selbstbestimmung auch hier?
Ja. Indem man den Mitarbeitenden klare Ziele vorgibt, aber ihnen gleichzeitig die Freiheit gibt, den Weg dorthin selber zu gehen. Also mehr Eigenmotivation statt permanente Kontrolle und Druck. Das macht uns selbstbestimmter, zufriedener und damit auch leistungsbereiter. Dies ist der wahre Kern von erfolgreichen Start-ups. Und je mehr wir im Homeoffice arbeiten, umso wichtiger wird dieser emphatische Führungsstil.
Welchen Beitrag kann der Staat zum «neuen Land» leisten?
Er soll die Infrastruktur für Innovation bereitstellen. Ob schnelles Breitband oder mobile 5G-Technologie, ob Testlandeplätze für Flugtaxis, Testzonen für autonomes Fahren und Drohnen-Transporte oder deregulierte Datenräume: Unternehmen sollten in der Lage sein, mehr auszuprobieren, ohne dass man sie zu sehr beschränkt.
Gehört dazu auch die staatliche Finanzierung von Innovation?
Grundsätzlich halte ich den Staat nicht für den besseren Unternehmer oder Investor. Aber Tatsache ist, dass die Start-ups aus Europa abwandern, sobald sie erfolgreich sind, weil bei uns Geldgeber fehlen, die umfangreiche Investitionsrunden von 100 Millionen US-Dollar und mehr stemmen können. Um die Kapitalausstattung von hiesigen Start-up-Fonds signifikant zu vergrössern, müsste es den Pensionskassen und den Versicherungen – wie in vielen anderen Ländern auch – erlaubt sein, ihr Anlagekapital in solche Vehikel zu investieren.
Sehen Sie sich als Vertreterin einer neuen politischen Bewegung?
Ich habe den Eindruck, dass es in meiner Generation der 35- bis 45-Jährigen brodelt und das Interesse, etwas gesellschaftspolitisch bewegen zu wollen, massiv steigt. Aber das Mittel dazu ist nicht mehr automatisch Parteipolitik, sondern jenes, mit dem man am meisten bewirken kann. Für den einen ist dies die Organisation eines Hackathons, für andere die Gründung eines Sozialen Unternehmens oder einer Stiftung.
Für die Bundestagswahl 2021 fordern Sie die Einführung eines neuen Digitalministeriums. Heisst Deutschlands erste Digital-Ministerin Verena Pausder?
Die muss nicht Verena Pausder heissen, aber wir brauchen zwingend ein Digitalministerium.
Photo credits: © Kim Keibel / © Patrycia Lukas
Verena Pausder
Verena Pausder (41) ist nicht nur eine der bekanntesten Start-up-Pionierinnen Deutschlands, sie ist auch unermüdlich im Kampf für mehr digitale Bildung unterwegs. Ihre Unternehmen «Fox & Sheep» und die «Haba Digitalwerkstatt» bringen Kindern spielerisch den Umgang mit digitalen Technologien und Programmieren bei. Die studierte Ökonomin (HSG) wurde mehrfach ausgezeichnet, unter anderem als «CEO of the Future» (McKinsey & Co) und als eine von «Europe’s Top 50 Women In Tech» («Forbes»). Darüber hinaus ist Verena Pausder Young Global Leader des Weltwirtschaftsforums und als Investorin, Aufsichtsrätin und politische Beirätin tätig. Sie lebt mit ihrem Mann und drei Kindern in Berlin. Im September erscheint ihr Buch «Das neue Land» im Murmann Verlag.