Auch für Immobilien ist das weltliche Dasein beschränkt. Hat die Lebenserwartung von Gebäuden zugenommen? Was sind die vitalen Organe, was die lebensverlängernden Massnahmen? Ein kleiner Check-up.
Prunkbau «Haus Bellevue» in Zürich: Gebaut 1856 und dank Sanierungen noch heute in bester Verfassung.
Kommt ein Kind heute auf die Welt, wird es laut Weltbank 71 Jahre alt, in der Schweiz sogar 83 Jahre. Noch 1960 lag die globale Lebenserwartung bei 52 Jahren. Die Steigerung um fast 20 Jahre war möglich dank der rasanten medizinischen Entwicklung und der markanten Verbesserung der globalen Ernährungs- und Hygienelage.
Haben die Häuser, in denen wir leben und arbeiten, ähnliche Fortschritte gemacht? Anders gefragt: Wie lange lebt heute ein Haus? Im Gegensatz zur Lebenserwartung von uns Menschen führt die Weltbank dazu keine Statistik, doch die Experten sind sich einig: «Bei Wohngebäuden geht man von einer Lebensdauer von 70 bis 100 Jahren aus», sagt Renato Piffaretti, Head Real Estate Schweiz von Swiss Life Asset Managers. Die Baustatistiken kommen auf einen ähnlichen Wert: In der Schweiz liegt die sogenannte Erneuerungsquote bei etwas mehr als einem Prozent. Das heisst: Jedes Jahr wird rund eines von 100 Häusern ersetzt. Auch nach dieser Logik werden Häuser knapp 100 Jahre alt. Dies entspricht gemäss einer Studie des Europäischen Parlaments auch in etwa der typischen Erneuerungsquote in Europa (Deutschland: 1,5 Prozent, Frankreich: 2 Prozent)1.
Das «Skelett» hält am längsten
Doch Haus ist nicht gleich Haus, verschiedene Faktoren bestimmen die tatsächliche Lebensdauer einer Immobilie. Am allerwichtigsten ist der Unterhalt. Renato Piffaretti sagt: «Bei Wohngebäuden sollte man Rückstellungen von zirka einem Prozent des Gebäudewertes machen, um sicherzustellen, dass zum Zeitpunkt einer Sanierung, also alle 30 Jahre, genügend Mittel vorhanden sind.»
Die «vitalen» Organe eines Gebäudes unterscheiden sich in ihrer Lebenserwartung2: Für Küchen- und Badgeräte, Anstriche oder Bodenbeläge geht man von Unterhaltszyklen von 10 bis 15 Jahren aus, für Leitungen, Fenster oder Flachdächer von 30 Jahren und für die Grundstruktur (Beton oder Backsteine) – das eigentliche «Skelett» – von 70 bis 100 Jahren. Dieses kann zwar saniert werden, jedoch nur mit sehr viel Aufwand, und das lohnt sich in der Regel nur bei historisch wertvollen Bauten, wie man an den europäischen Altstädten unschwer beobachten kann.
Ein entscheidendes Element der nachhaltigen Bauweise sei deshalb die sogenannte Systemtrennung, sagt Renato Piffaretti: «Bauteile unterschiedlicher Lebensdauer sollten gebündelt werden. Damit sind sie einfacher zu erreichen und zu ersetzen. Beispielsweise werden Leitungen heute nicht mehr einbetoniert, sondern in offenen Schächten geführt.»
Der Schönere gewinnt
Generell werde heute vorausschauender gebaut als früher, sagt auch Peter Richner, der stellvertretende Direktor der Eidgenössischen Materialprüfungs- und Forschungsanstalt (Empa). Er ist verantwortlich für das Projekt «NEST»3, ein modulares Forschungs- und Innovationsgebäude, wo neue Technologien, Materialien und Systeme getestet werden. «Ein wichtiger Schlüssel zur Langlebigkeit ist die Flexibilität eines Gebäudes», sagt er. «Man sollte die Raumaufteilung einfach anpassen können.» So hätten die Bewohner heute beispielsweise ganz andere Ansprüche an Küche und Bad als vor dreissig Jahren. Doch Wohnräume aus jener Zeit liessen sich nur schwer verändern und müssten deshalb oft vorzeitig abgerissen werden. Heute, so Richner, versuche man so zu bauen, dass auf zukünftige Bedürfnisse einfach reagiert werden könne.
Aber nicht nur die inneren Werte zählen. Über die Lebensdauer entscheidet auch das Aussehen. «Am Ende des Tages muss man so bauen, dass es die Bewohner gerne haben», sagt Peter Richner, der regelmässig in Architekturjurys eingeladen wird. Häuser stünden auch in einer Art darwinistischem Wettbewerb, wobei das Stärkere (in diesem Fall das Schönere) gewinnt und stehen bleibt: «Was man nicht mag, wird schneller abgerissen, zudem trägt man zu guten Gebäuden auch mehr Sorge.»
Standort mitentscheidend
«Lage, Lage, Lage» lautet ein ungeschriebenes Gesetz der Immobilien-Branche und es ist auch für die Lebensdauer ein wichtiger Faktor. Steht das Gebäude an einer attraktiven, zentralen Lage, lohnt es sich vor einer Sanierung zu prüfen, ob ein grösserer Neubau nicht ein attraktiveres, nachhaltigeres Investment wäre. Ersatzbauten werden heute auch gesellschaftlich gefordert und gefördert. Indem Siedlungen dichter gebaut werden, wird weniger Kulturland verbraucht. Ersatzbauten lassen sich auch dadurch rechtfertigen, dass heute ein Grossteil der Baumaterialen wiederaufbereitet und teilweise direkt im Neubau wieder verbaut wird.
Schliesslich beeinflusst auch die Nutzung die Lebensdauer: «Bei Industrie- oder Logistikbauten wird nur von etwa 30 bis 40 Jahren ausgegangen», sagt Renato Piffaretti von Swiss Life Asset Managers, «nicht, weil diese Gebäude schlechter halten, sondern weil man schlicht davon ausgeht, dass sie ihre Investitionen in diesen Zeitraum einspielen müssen – denn ob sie danach noch Bedürfnissen entsprechen, lässt sich schwer vorhersagen.»
«Man bekommt, wofür man bezahlt»
Bleibt zum Schluss die Frage: Hat die Lebenserwartung von Häusern ähnlich zugenommen wie die von Menschen? «Nein, im Gegenteil», meint Renato Piffaretti, «moderne Baumaterialien wie Dämmstoffe halten eher weniger lang als Stein und Holz.» Ausserdem würden heute viele Kunststoffe und chemische Verbindungen eingesetzt wie Kleber, bei denen man noch wenig über die Alterung weiss. «Hinzu kommt», so Piffaretti, «dass durch den Preisdruck Konstruktionen heute so optimiert sind, dass sie nur noch leisten können, was man jetzt gerade von ihnen erwartet.» Früher hingegen habe man noch eine hundertprozentige Reserve eingeplant. Das sei vorbei.
Sein Fazit: Bei Häusern sei es heute, wie sonst im Leben auch: «Man bekommt, wofür man bezahlt.» Es werde nicht mehr für die Ewigkeit, aber durchaus für Generationen gebaut.
Quellen:
1 Boosting Building Renovation: What Potential and Value for Europe? (Study for the ITRE Committee, 2016)
http://www.europarl.europa.eu/thinktank/en/document.html?reference=IPOL_STU(2016)587326
2 Was hält wie lange? Die Lebensdauer der Bauteile:
http://www.beobachter.ch/fileadmin/dateien/shop/hilfsmittel/0701.pdf
3 Das Projekt «NEST» (Next Evolution in Sustainable Building Technologies) der Empa:
https://www.empa.ch/de/web/nest/overview